2132 - Der Saltansprecher
Schulter. „Du hast mutig gehandelt, mein Freund", sagte er. „Deine Ehre wird keinen Schaden nehmen, selbst wenn Olibec dich bestrafen lässt." Auch das stimmte nicht ganz, denn in den komplexen Ehrstrukturen der Gesellschaft war die Loyalität zu einem Kommandanten oder Vorgesetzten höher anzusiedeln als die eigene Ehre. Im schlimmsten Fall konnte Olibec sein Recht einfordern und Pernaq wegen dieser Eigenmacht zum Tode verurteilen. Das war auch der Grund, warum Pernaq allein in der Krankenstation war. Keiner seiner Assistenten sollte zum Mitwisser werden. „Hast du die Prothesen getestet?", fragte Molpo, um das Thema zu wechseln. „J a, sie sind voll funktionstüchtig. Abgesehen von ihrem Aussehen gibt es kaum einen Unterschied zu organischen Händen. Er sollte keine Schwierigkeiten bei ihrer Benutzung haben."
Sie sahen beide nach unten, als Tieger seufzend einatmete und die Augen aufschlug. Sein Blick war glasig, klärte sich jedoch langsam. „Molpo?", fragte er' mit belegter Stimme. „Wo sind die Saltans?"
„Im Gehege, dort, wo sie hingehören. Du musst dir keine Sorgen machen." Pernaq setzte sich auf die Bettkante. „Weißt du noch, worüber wir gestern Abend geredet haben?" Tieger dachte einen Moment nach. „Du wolltest mir eine Überraschung geben ... Aber dann war ich auf einmal so müde ..." Abwesend und ohne zu bemerken, was er gerade tat, kratzte er sich am Bein. „Was tust du da?", fragte Pernaq lächelnd. Tieger gähnte. „Nix, hat nur ge juckt."Molpo setzte sich auf die andere Bettkante. „Und wenn's juckt, muss man sich kratzen, ist schon klar. Und womit kratzt man sich?"
„Mit den Fingern ..." Tieger blinzelte. Die linke Prothese bewegte sich, kratzte langsam und fast schon ehrfürchtig über das Laken. „Aber ..." Er hob die Arme. Molpo beobachtete ihn nervös, sah, wie seine Augen sich weiteten und sein Mund aufklappte. Die schwarzen Metallfinger zuckten, wurden zur Faust geballt und wieder geöffnet.
Versteht er es?, dachte Molpo. Versteht er, dass das jetzt seine Hände sind? Es schienen Stunden zu vergehen, bis Tieger endlich den Blick von den Prothesen abwandte und Pernaq ansah. „Darf ich ...", begann er, brach dann jedoch ab.
„Sie behalten? Natürlich, sie gehören dir und ..." Er wollte noch mehr sagen, aber Tieger umarmte ihn plötzlich und mit solcher Kraft, dass er nach Luft schnappte. Dann fand Molpo sich auch schon in dem Griff wieder und lachte. „Störe ich?" Die Stimme schnitt wie ein Schwert in den Raum.
Molpo wand sich aus Tiegers Armen und zog in einer nervösen Geste seine Robe zurecht. Pernaq stand auf. Nur Tieger blieb auf dem Bett sitzen und sah dem Pfauchonen im Türrahmen ohne jede Angst entgegen. „Olibec", sagte Pernaq. „Du störst natürlich nicht. Was wünschst du von mir?"
„Ich dachte, es würde dir vielleicht Freude bereiten, mich auf meinem Morgenspaziergang zu begleiten, aber wie ich sehe, bist du beschäftigt."
„Vielleicht morgen ..." Pernaqs Stimme klang ein wenig höher als sonst. Er räusperte sich. „Vielleicht." Olibec drehte sich um und verließ das Zimmer. Einen Moment später hörte Molpo; wie die Tür zur Krankenstation geschlossen wurde. „Warum hat er nichts gesagt?", fragte er. „Die Prothesen sind doch kaum zu übersehen."
Pernaq strich sich mit der Hand durch die Haare. „Ich bin sicher, das kommt noch."
„Nee, er wird nie was sagen." Molpo sah Tieger an. „Woher willst du das wissen?"
„Ich weiß es." Molpo bemerkte Pernaqs kurzen Blick und hakte nicht nach. „Komm mit, Tieger!", sagte er stattdessen. „Wieso probieren wir deine neuen Hände nicht in den Stallungen aus?" Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Sosehr sich Molpo auch be mühte, die absolute Sicherheit, mit der Tieger diesen einen Satz gesprochen hatte, ließ ihn nicht mehr los.
5.
... ins Licht Es war wie der Morgen nach einem endlos langen Albtraum. Tieger genoss jeden Handgriff, jeden noch so kleinen Reiz, der sein Gehirn erreichte.
Die Saltans feierten ihn wie einen Helden, sangen zu ihm von den großen Siegen, die er errungen hatte. Ja, dachte Tieger, als er zwischen ihnen in einer der Gruben lag und seine Finger durch ihr Fell gleiten ließ. Ich habe ein zweites Mal gesiegt. Er schmeckte gabraunizisz auf seiner Zunge und lachte. Zusammen mit La hatte er so viele Knospen entwendet, dass er immer noch ein paar übrig hatte. Die Verstecke, die er in der Höhle angelegt hatte, waren noch nicht geleert und mit seinen neuen Händen
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