2135 - Der Zeitbrunnen
Augen. Sie zitterte am ganzen Leib und wollte nichts mehr sehen. Aber sie blieb aufrecht stehen, umklammerte das Geflecht an der Kette um ihren Hals, erwartete in Würde ihren Tod.
Gegen die Angst half die aufrechte Haltung nichts. Die Haltung würde ihr nur helfen, ihre Ehre zu bewahren. Aber die Angst blieb. Sie würde zerquetscht werden. Niemand würde sie finden und bestatten. Es war ein unwürdiges Ende, und ... Sihame wartete. Sie atmete nicht mehr. Sie hätte längst tot sein müssen! Der Aufprall auf die Mauer hätte längst erfolgt sein müssen! Sihame zwang sich dazu, die Augen wieder zu öffnen. Sie erwartete einen Blitz, eine Explosion, aber nichts dergleichen geschah. Das Führerhaus des Zuges raste in die Mauer hinein - und hindurch! Es gab keinen Ruck, nicht einmal eine Fahrtverzögerung. Der Zug glitt durch die Mauer hindurch wie ... ... durch eine Projektion, ein Hologramm! Sihame erkannte, was geschah. Sie lebte, und jetzt wusste sie, weshalb die Rohrbahnstrecke zur Zehnten Stadt von keiner anderen Stadt aus erreichbar war.
Die Strecke existierte zwar, war jedoch mit umfangreichen Vorplanungen aus dem Streckennetz abgekoppelt worden. Hologramme sollten suggerieren, dass der Weg zu Ende war.
Prinzessin Sihame zitterte immer noch. Sie rechnete mit weiteren „Hindernissen", die keine waren. Aber jetzt war sie vorbereitet. Noch einmal sollte sie nicht die Kontrolle über sich verlieren. Sie war fast enttäuscht, als die weitere Fahrt völlig reibungslos verlief. Nach weniger als einer Stunde erreichte sie die Stadt Raud'ombir. Der Zug wurde automatisch abgebremst und kam zum Stehen, gleich neben einem anderen, deutlich moderner wirkenden. Sihame verließ das Führerhaus und setzte den Fuß auf den hier staubfreien Bahnsteig.
Die gleiche Grabesstille wie in der Zehnten Stadt umfing sie. Darauf war sie vorbereitet gewesen. Es fehlte das Gewirr unzähliger Wesen aus zahlreichen Galaxien, sie vermisste die seltsamen Visienten und die überall umherschwirrenden Roboter. Sie litt geradezu unter der Stille. Aber was hätte sie erwarten sollen? Ein Empfangskomitee? Soner selbst? Beides war unmöglich. Die Prinzessin begann sogar daran zu zweifeln, dass ihr Gemahl in dieser Stadt seine Unterkunft genommen hatte. Plötzlich erschien es ihr wie Wunschdenken. Der ganze Planet stand ihm zur Verfügung, alle neun Schreiberstädte. Sollte er tatsächlich wegen einer sentimentalen Neigung Raud'ombir zu seinem Zufluchtsort bestimmt haben?
Es gab nur zwei Möglichkeiten, dies festzustellen. Einmal die Raumhäfen und zum anderen die bestimmte Herberge, in der sie eine glückliche Zeit verbracht hatten. Sihame verließ die Rohrbahnstation und ging an die Oberfläche. Alle Plätze, alle Straßen, Gassen und Häuser waren ohne Bewegung. Die Bewohner und Gäste hatten bei ihrer hektischen Evakuierung allerlei hinterlassen. Technische Gegenstände und Kleidungsstücke lagen überall verstreut, dazwischen schon leicht gammelnde Nahrungsmittel, Souvenirs und zahlreiche Gegenstände, die Sihame nicht auf den ersten Blick identifizieren konnte.
Ansonsten sah alles so aus, wie sie es in ihrer Erinnerung hatte. Der Turm des Statistikers Raud „stand" kerzengerade über dem Spiegelfeld im Zentrum der Stadt. Wie mochte es jetzt in der Zehnten Stadt aussehen? War der dortige Turm tatsächlich abgestürzt? Hatte sein Sturz die Stadt vernichtet? Waren Atlan und die beiden jungen Mutanten tot? Die Fremden aus der Milchstraße hatten sie hierher gebracht, durch den Blockadering aus Soners hunderttausend Schiffen hindurch, per Teleportation. Die Prinzessin war ihnen zu Dank verpflichtet. Jetzt kam sie sich wie eine Verräterin an ihnen vor. Aber was hätte sie für sie tun können?
Sihame hoffte auf ein Wiedersehen mit ihnen. Sie wünschte ihnen, dass sie die sich anbahnende Katastrophe überstanden und dass sie es schafften, ebenso wie sie aus der Zehnten Stadt herauszufinden - vielleicht hierher. Denn sie hatten ja Startac Schroeder, den Teleporter. Sihame irrte durch die Straßen der basarähnlichaufgebauten Stadt. Wo sonst der Händlerlärm ertönte, das ungläubige Staunen der Besucher, herrschte jetzt nur noch Stille, die ihr vorkam wie die Stille des Todes. Was hatte Soner getan? Seine Schuld würde ihn ein Leben lang belasten.
Schließlich erreichte die Pfauchonin jenen Landeplatz, der sonst den Malischen Dschunken vorbehalten war. Dschunken waren keine mehr hier, aber dafür etwas anderes. Der Anblick ließ das Herz der
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