214 - Der Mann aus der Vergangenheit
der Tiere waren nicht geplatzt, wie mancher Krakeeler in der Akademie der Wissenschaften prophezeit hatte.
Die Montgolfiers wurden mit Ehrenbezeugungen überschüttet. Ihnen gehörte der Ruhm des Augenblicks, doch dies störte Jean-François nicht weiter. Er wusste, dass seine Stunde bald kommen würde.
Er genoss im Stillen, ließ sich vom Trubel nicht weiter anstecken, kehrte so bald wie möglich in sein kleines Forschungsmuseum zurück.
Er schrieb einen Brief, faltete ihn sorgfältig zusammen und versiegelte ihn. Dann rief er nach einem Diener.
»Dieses Schriftstück soll nach Lorraine gebracht werden, in mein Elternhaus«, ordnete er an. »Es soll meiner Mutter vorgelesen werden.«
»Sehr wohl, Maître.« Der Diener nahm den Brief an sich und ging davon.
Mutter. Alt, verbraucht und verwirrt. Von ihm von Zeit zu Zeit mit Geldern bedacht, um ein Leben einigermaßen menschenwürdig zu Ende zu bringen, nachdem der Herr Papa lange vor ihr abberufen worden war.
Würde sie lächeln? Würde sie sich an die alten Tage erinnern? Würde sie verstehen, was der Bote ihr vorlas?
»Die Hammeln können nunmehr fliegen«, stand in dem Brief geschrieben, »aber auch ich habe meinen Verstand zu nutzen gelernt.«
***
»Ein zum Tode Verurteilter?«
Marie-Antoinette, so bemerkte Jean-François an ihren verkrampften Händen und dem starren Blick, tat sich schwer, die Contenance zu bewahren.
»Ihr wollt Ruhm und Ehre einem Schwerverbrecher überlassen?«, fragte sie ihren Ehegatten. »Soll denn die ganze Welt glauben, dass der König von Frankreich keinen Besseren gefunden hat, um in den Äther aufzusteigen? In Preußen, Russland und England wird man über uns lachen. – Nein, mein geliebter Mann: Es muss einmal ein Mann von höherem Rang sein, und ihm zur Seite ein Forscher, dessen Namen in der wissenschaftlichen Fachwelt ein Begriff ist.«
»Dein Engagement für dieses Projekt ist hochlöblich«, sagte der König und seufzte. »Ich wollte, ich könnte deine Begeisterung auch für andere Dinge anfachen.«
Die Kritik war unüberhörbar. Sie kündete von Spannungen innerhalb der königlichen Familie. Jean-François war von Marie-Antoinette darauf vorbereitet worden, derlei Dinge im Rahmen der Vorbesprechung für den ersten bemannten Flug an Bord eines Luftschiffs zu hören zu bekommen.
Die Königin schwieg und lächelte unverbindlich.
»Na schön«, fuhr Louis fort. »Wie ich vermute, meine Liebe, hast du auch schon Namen anzubieten.«
»In der Tat.« Marie-Antoinette nickte. »Der Marquis d’Arlandes, dir sicherlich als wagemutiger Mann mit reichhaltiger Allgemeinbildung bekannt, könnte die eine Hälfte der Besatzung ausmachen. Als die andere möchte ich Maître Pilâtre de Rozier vorschlagen.«
Der König fixierte Jean-François mit Blicken. »Einen deiner Günstlinge also?«, sagt er mit unvermuteter Offenheit.
»Wäre er irgendein dahergelaufener Scharlatan, würde ich deine Kritik verstehen. Ich bin mir aber sicher, dass du um seine Qualitäten weißt, die er sich in drei Jahren innigster Beschäftigung mit den Themen der Aeronautik angeeignet hat.«
Louis zögerte kurz, winkte dann mit der Hand.
»Meinethalben!«, sagte er. »Du sollt deinen Willen haben, meine Teure.« Er wandte sich an die Brüder Montgolfier.
»Von Ihnen, Monsieurs, erwarte ich, dass alle Pläne aufgehen. Die ganze Welt wird uns auf die Finger sehen. Meine Anwesenheit während der Vorführung wird die Erwartungshaltung der öffentlichen Meinung verstärken. Ich hoffe, dass Ihr Euch der Verantwortung bewusst seid?«
Die beiden Brüder, ohnehin klein vom Wuchs, duckten sich unter den Worten des Königs noch ein wenig tiefer.
»Jawohl, Majestät!«, flüsterte Joseph-Michel Montgolfier.
»Wir werden Euch nicht enttäuschen.«
Der Zeremonienmeister klopfte zwei Mal mit seinem Stock auf. Die Audienz war beendet. Die Montgolfiers hatten gewonnen. Jean-François hatte gewonnen.
Marie-Antoinette hatte gewonnen.
7. Der 21. November im Jahr des Herrn 1783
Kalte Winde wehten durch die Gärten de la Muette im Osten von Paris. Auf den eilig aufgestellten Tribünen saßen und standen Honoratioren aus aller Herren Länder; unter ihnen Könige, Fürsten, Prätendenten, Kardinäle, Mätressen, Thronfolger, Diplomaten. Die Aufregung war spürbar, greifbar. Es war, als hielte Gottes Schöpfung für einen Augenblick den Atem an.
Jean-François schüttelte dem Marquis d’Arlandes die Hand. Sie umarmten sich kurz, für den Augenblick alle
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