214 - Der Mann aus der Vergangenheit
Standesunterschiede und Dünkel vergessend. De Rozier schätzte den etwas einfältigen, aber tapferen Mann. Er kam ihm nicht in die Quere, war auch nicht auf Ruhm und Ehre aus, sondern suchte lediglich das Abenteuer.
»Für König und Vaterland!«, rief er publikumsträchtig.
Er fühlte, wie sich die Seile allmählich spannten, wie sich die Ballonhülle aufblähte, wie der Moment nahte, da sich der Korb in die Lüfte hob.
Hochrufe antworteten ihm. Hüte wurden geschwungen, Taschentücher geschwenkt.
Der Korb stieg hoch, wie sie es erwarteten. D’Arlandes und er stellten sich an gegenüberliegende Seiten des Korbs, um das fragile Gleichgewicht an Bord zu gewährleisten. Der weiße Rauch biss in Nasen und Augen.
Zwei Meter. Fünf Meter. Zehn Meter. Die Menschen unter ihnen schienen zu schrumpfen. Ein seltsames Gefühl machte sich in Jean-François’ Magen breit.
Angst. Weniger vor dem Absturz, als vor dem Versagen.
Erste Halteseile wurden gelöst, letzte Verhaltensmaßnahmen mit den Brüdern Montgolfier ausgetauscht. Noch gab es eine Verbindung mit der Erde, noch konnte der Ballon von der halben Hundertschaft an wartenden, kräftig gebauten Knechten zurück auf den Boden gezerrt werden.
»Jetzt!«, rief Jean-François.
Das letzte Seil wurde gekappt. Ruckartig stiegen sie höher. Korb und Ballon wurden von einer Windbö erfasst, trieben zur Seite. Jean-François hielt sich krampfhaft an der Reling fest. Er fühlte den festen Griff des Marquis, der ihm unterstützend beiseite stand. Er war grün im Gesicht, die Panik verzerrte seine Züge. Sicherlich sah auch er nicht viel besser aus.
Das Schaukeln ließ nach. Mit unwiderstehlicher Kraft zogen die Winde den Ballon in Richtung Süden. Die Menschen unter ihnen wurden zu Punkten. Vereinzelte Gehöfte wirkten wie hingekleckst in die gelbbraune Landschaft des Spätherbstes. Die Unterseite des Ballons war rußbedeckt. Das Feuer an Bord schwelte vor sich hin; der Funkenflug wurde, wie erhofft, von feinstem, mit Wasser getränktem Tuch abgefangen, bevor er die papierene Hülle des Luftschiffs erreichte.
Für Minuten blieben sie stehen und starrten in die Welt hinaus, vernachlässigten zur Gänze ihre Pflichten. Sie sahen Dinge, die niemals zuvor ein Mensch erblickt hatte.
Erst allmählich, als die Wolken beunruhigend nahe kamen und die Winde an Stärke gewannen, löschten sie das Feuer und bereiteten alles für die Landung vor. Nahe La Butte aux Cailles, einer winzigen Siedlung am Südosthang eines kreisrunden Hügels, setzten sie auf.
Jean-François und der Marquis rafften die wertvollen Stoffe des Ballons zusammen und verschnürten sie, wie sie es geübt hatten. Schweigend, in sich versunken taten sie es. Es gab keine Worte, in denen sie ihre Erfahrungen auch nur annähernd wiedergeben konnten.
Massen an Menschen strömten herbei. Menschen, die ihrem zwanzigminütigen Flug im Laufschritt gefolgt waren, ihr Abenteuer vom Boden aus miterlebt hatten.
Man packte sie, jubelte ihnen zu, hob sie auf die Schultern, trug sie im Triumphzug davon.
Jean-François ließ es geschehen. Das Gesehene und Erlebte sickerte langsam ein, wuchs in seinem Inneren und festigte sich zu einer Gewissheit: Er hatte es geschafft!
Kein Wort des Glücks wollte ihm über die Lippen kommen. Ja. Er hatte es geschafft – und dennoch sah er sich erst am Beginn einer langen, langen Reise.
***
»Du bist schwerer zufrieden zu stellen als meine vier Kinder zusammengenommen«, sagte Marie-Antoinette.
»Du nutzt mich aus, und du nimmst es in Kauf, dass ich vor dem König noch mehr diskreditiert werde. Man munkelt bereits über die Hintergründe unseres allzu innigen Verhältnisses.«
»Gut so«, sagte Jean-François kühl, »dann lenke ich deine Feinde zumindest von deinem Verhältnis zu von Fersen ab.«
»Du bist ein rüder, gefühlloser Mensch!«, rief Marie-Antoinette. »Ich hasse dich!« Sie ging zum Spinnett und tapste ärgerlich über die Tasten.
»Du lügst, Österreicherin. Du bist froh, dass du mich hast. Du besitzt nicht viele Freunde hierzulande.«
»Noch dazu solche von niederem Stand und mit derart schlechten Manieren.« Sie seufzte und setzte sich auf die Chaiselongue. »Jetzt im Ernst, Jean-François: Du verlangst zu viel und zu rasch. Du forderst die Eifersucht Anderer deines Berufsstandes heraus. Tagtäglich sieht sich mein Herr Gemahl den Begehrlichkeiten von Forschern, Erfindern und Entdeckern ausgesetzt. Immer wieder fällt dein Name, wenn es um großzügig gewährte
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