214 - Der Mann aus der Vergangenheit
eines Hybriden. Einer Rozière, in der man durch geschickte Verwaltung der beiden vorhandenen Gase jederzeit von einer Luftschicht zur nächsten wechseln konnte, um deren Strömungen auszunutzen.
Die Reise über la manche würde ein Vabanque-Spiel werden, dessen war sich Jean-François bewusst. Selbst eine Vorbereitungszeit von acht Monaten, selbst die endlosen Tests neuer Ballonmaterialien, selbst die ausgetüftelte Ausstattung des Korbs mit all seinen Steuerungsmöglichkeiten ließen die vielfältigen Gefahrenpunkte nicht geringer erscheinen. Ein einziger Funke an der falschen Stelle, und seine Rozière würde – pfft! – wie ein Nichts im Himmel vergehen.
Es dunkelte bereits. Morgen, noch vor dem Sonnenaufgang, würde er die Reise nach Boulogne-sur-Mer antreten, wo ihn sein aeronautischer Begleiter Jean-Pierre Romain bereits erwartete. Der junge Franzose, aus dem behütetem Hause einer Weber-Dynastie stammend, hatte die beiden Ballonhäute gemäß seiner Wünsche angefertigt.
»Einen Sous für eine arme alte Frau!«, hörte er Gekrächze aus einer dunklen Ecke. Er tastete nach seiner Waffe und wich ein wenig zur Seite. Um diese Uhrzeit konnte man nicht vorsichtig genug sein.
Es stank nach Alkohol, Urin und Kadaver. Zwei magere Beine, notdürftig von leinenen Fetzen bedeckt, ragten ins Licht der Laterne. »Bitte, junger Herr!« Dürre, zitternde Hände streckten sich verlangend nach ihm aus.
»Gewährt einer verhungernden alten Vettel die Gnade eines weiteren Tages. Ein oder zwei Sous benötige ich bloß, um beim Schlächter um die halbverdorbenen Reste des Tages mitbieten zu können. Bitteschön, ein oder zwei Sous, nicht mehr, nicht mehr…«
Ein Gesicht schob sich ins Licht. Es war hager, verfallen, von tiefen Falten und Krähenfüßen gekennzeichnet. Die Frau trug eine Narbe, vom rechten Mundwinkel bis zum rechten Ohr. Die Augen waren hellblau, sie starrten ihn blicklos an. Sabber troff über ihr Kinn.
»J… ja!«, stammelte Jean-François erschrocken. »Ein paar Sous. Ein paar Sous für dich. Ich habe welche, ganz sicher…«
Er löste den Geldbeutel. Tastete mit unsicheren Fingern umher, fühlte die Münzen, schaffte es aber nicht, sie hervorzuziehen. Es war ihm kalt und es war ihm warm und er schwitzte und er fror und er fühlte Angst, abgrundtiefe Angst…
Er riss den Beutel vom Lederriemen, voll mit Geld, sicherlich zehn Livres, und warf ihn der Alten hin. »Da!«, brachte er hervor, während sein Herz raste, vor Panik schier zerspringen wollte.
Er lief davon, auf das Haus der Madame Hinault zu. Er bimmelte die Glocke, hämmerte, trat gegen die Türe, so lange, bis die Vermieterin die Sichtklappe öffnete.
»Ihr seid’s, Monsieur!«, sagte sie erschrocken und schloss auf. »Ihr seht so aus, als sei Euch der Leibhaftige begegnet…«
Er stampfte an ihr vorbei, in sein Zimmer, verriegelte, schob mit letzter verbliebener Kraft ein schweres Bücherregal davor. Erst dann wagte er es, sich auf das Sofa fallen zu lassen und durchzuatmen.
Die alte Frau. Er kannte sie, hatte sie vor mehr als zehn Jahren das letzte Mal gesehen und geliebt.
Damals als hübsches Mädchen, das unbeschwert in die Zukunft geblickt hatte. Heute als körperliches und geistiges Wrack, das auf ein Ende in der Gosse harrte.
Isabelle, die Hure, die ihn in ihrem Delirium nicht mehr erkannt hatte, hielt ihm einen Spiegel vor, wie rasch die Zeit vergangen war und wie rasch das Leben zu Ende gehen konnte.
9. Der 15. Juni im Jahr des Herrn 1785
Die Rozière hob plangemäß ab. Trotz der Routine von mittlerweile mehr als zwanzig Flügen war es immer noch ein erhebendes Gefühl, sich den Winden anzuvertrauen, während sich über Jean-François das Leinen bauschte, das Feuer der Flamme zischte und sich krächzende Möwen über etwas nie zuvor Gesehenes empörten.
»Nur die Ruhe!«, sagte Jean-François zu Jean-Pierre Romain, der sich mit grünem Gesicht an der Messingreling festklammerte. »Es verläuft alles nach Plan.«
Er zog vorsichtig am Reduktionshebel. Die Steiggeschwindigkeit ließ nach.
Das Quecksilberbarometer, das sich als leidlich brauchbares Messinstrument erwiesen hatte, zeigte mehr als zweihundertfünfzig Meter Höhe an.
»Wunderbar!«, rief Jean-Pierre, mutiger geworden.
Gleich darauf beugte er sich über die Reling des Korbs, um eine Stafette nach Speyer zu schicken.
»Vorsicht jetzt!«, sagte Jean-François und rüttelte seinen Partner an den Schultern. »Wir nähern uns la manche. Hier ändern sich die
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