214 - Der Mann aus der Vergangenheit
Winde, und es mag stürmischer für uns werden. Wir müssen höher steigen.«
»Noch stürmischer? Noch höher?«
Pilâtre de Rozier achtete nicht weiter auf seinen Begleiter. Nun galt es, die immer wieder eingeübten Handgriffe und Verhaltensmaßregeln zu beherzigen. Nur nicht übermütig werden, nur nicht zu nervös reagieren. Er zog und schob und rüttelte an den hölzernen Reglern, die die Zufuhr von heißer Luft und Hydrogenium in den beiden ineinander ragenden Ballons regulierte.
Hydrogenium, das ihm sein Freund Antoine de Lavoisier als zweiten Brennstoff empfohlen hatte. Er nutzte es vorsichtig, mit Maß und Vernunft.
Die Küste war erreicht. Die winzigen Häuser von Wimereux klebten am letzten Streifen Wiesengrün, bevor ein schmaler Sandstrand den Übergang zur See kennzeichnete. Wimereux, manchmal auch Wimille genannt. Jemand winkte Jean-François mit weißen Fahnen zu. Einer jener Lotsen, die sich Jean-François für die Flugstrecke entlang des Festlandes ausbedungen hatte.
Der letzte Mann in der Stafette hieß, so wusste er, Christian de Neufville. Ein junger Adliger, verarmt und ohne lebenden Verwandten, der in die Stadt Paris gekommen war, um einen Sinn im Leben zu entdecken.
De Neufville erinnerte de Rozier in vielerlei Hinsicht an ihn selbst, war aber um gut und gern zehn Jahre jünger.
So jung, so jung…
Er winkte zurück, schickte einen letzten Gruß an Frankreich aus.
»Was ist das für ein seltsames Licht?«, fragte Jean-Pierre Romain und deutete hinaus aufs Meer.
Jean-François folgte seinen Blicken. »Keine Ahnung«, sagte er kurz angebunden, um sich gleich darauf wieder der Steuerung der Rozière zu widmen. »Vielleicht der Vorbote eines Gewitters. Wir wissen noch viel zu wenig über Wolken, Blitz und Donner. Nimm Graphitstift und Papier zur Hand und fertige eine Zeichnung an. Ich stehe im ständigen Austausch mit dem américain Benjamin Franklin, der sich mit derartigen Dingen beschäftigt.«
»Ja«, murmelte Jean-Pierre. »Aber meinst du nicht, wir sollten… mon dieu!«
Pilâtre de Rozier blickte hoch. Ungehalten über die Ängste seines Freundes, nervös und gereizt.
Bis er es sah.
Die blassblaue Lichtsäule. Die Verwirbelungen. Die Effekte, die seine Sinne verwirrten.
Jean-Pierre Romain wich zurück, so weit er konnte. »Es kommt genau auf uns zu. Wir müssen… du musst…« Er legte die Hände abwehrend vors Gesicht, beugte sich nach hinten, weit über die Reling des Korbs hinaus.
»Pass auf!«, rief Jean-François ihm zu, wollte auf ihn zueilen, ihn halten, in die zweifelhafte Sicherheit des Tragekorbs zurückziehen. Er blieb hängen, am Reduktionshebel, brach das filigrane Gestänge ab, kam um genau diesen einen Bruchteil einer Sekunde zu spät, dessen es bedurft hätte. Die Hand des Freundes, in der Panik weit ausgestreckt, schlüpfte ihm durch die Finger, und Jean-Pierre stürzte hinab, hinab, hinab, immer tiefer, ohne einen Laut von sich zu geben, hinab in das steinerne Grau von la manche, hinab in den sicheren Tod.
Die Lichtsäule, nicht greifbar, nicht fühlbar, war heran.
Sie packte den Ballon, beutelte ihn wie wild hin und her.
Jean-François griff nach der Flinte, die er, um freche Vögel aus der Nähe der Rozière zu vertreiben, mitgenommen hatte, wollte auf die seltsame Erscheinung feuern. Auch er fühlte nun die Panik hochkommen, die Angst davor, Gottes Zorn auf sich herabberufen zu haben, nachdem er Seinen Willen missachtet und sich in die Lüfte erhoben hatte.
Ein Schlag von der Seite. Wuchtig, unerwartet, den Ballon meterweise zur Seite drückend. Jean-François wollte zupacken, sich an der Reling festhalten, andererseits den beruhigenden Griff um seine Waffe nur ja nicht lockern. Er überlegte zu lange. Er verlor das Gleichgewicht, fühlte sich aus dem breiten Bastkorb herausgehoben, in Richtung des Lichtschimmers geschleudert. Er wurde von der Erscheinung gepackt, verwirbelt. Ein Augenblick wurde zur Ewigkeit, der Sturz angehalten und eingefroren. Als bekäme er nun von dem Einen Gott die Gelegenheit, all seine Sünden zu bereuen – um dann mit vermehrter Wucht hinab in die Tiefe expediert zu werden.
Zu wenig Zeit, dachte Jean-François Pilâtre de Rozier verzweifelt, ich hatte zu wenig Zeit…
***
Die Gase der nunmehr führerlosen Rozière vermengten sich. Ein Funke aus dem Futterfeuer reichte aus, um die Ballons binnen weniger Sekunden in einer gewaltigen Stichflamme zu vernichten. Das Luftschiff stürzte ab, aus einer Höhe von dreihundert
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