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214 - Der Mann aus der Vergangenheit

214 - Der Mann aus der Vergangenheit

Titel: 214 - Der Mann aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael M. Thurner
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trieben ihre Sklaven in langen Karawanen hinab zur Goldküste und veräußerten sie von dort aus äußerst gewinnbringend an Briten, Spanier oder Amerikaner. Auch in Paris war es in manchen Häusern chic, sich einen Nubier als Diener zu halten. Die groß gewachsenen Burschen waren schön anzusehen, und sie verrichteten gute Dienste. Hinter vorgehaltener Hand munkelte man, dass sie einsamen reichen Witwen auch in den Nächten durchaus gefällig waren und in gewissen Zirkeln gerne umhergereicht wurden.
    Pilâtre de Rozier schreckte aus seinen Überlegungen hoch. Das Gespräch hatte sich mittlerweile zur heftig geführten Diskussion ausgewachsen, die immer mehr an Lautstärke und Intensität gewann. Ein Tonkrug wurde im Kreis gereicht. Blutrote Flüssigkeit schwappte über. Sie roch herb, und der Alkohol darin sorgte für ein weiteres Hochschwappen aggressiver Stimmung. Bald würden kräftige Hiebe ausgetauscht werden, so fürchtete de Rozier.
    Seltsam. Er spürte keine Furcht. Man mochte über sein Schicksal entscheiden, aber es rührte ihn nicht. Schließlich wandelte er durch einen Traum.
    Ein Mann, fast nackt, über und über mit Kreide bedeckt, sprang brüllend in die Mitte des Kreises. Er ging in die Hocke, rollte wild mit den Augen, schleuderte mit seinen Beinen Sand und Geröll auf seine Zuseher.
    Ein Medizinmann. Ein Heiler.
    Oder ein comédien?
    Einerlei; mit seiner Hanswurstiade brachte er die Schwarzen zum Staunen und zum Lachen. Die Frauen und Männer entspannten sich, zeigten einander wieder die so wunderbar ebenmäßig geformten Zähne und redeten dann in gelöster Atmosphäre weiter.
    Wabo deutete immer wieder auf ihn. Seine Gestik ließ darauf schließen, dass er für ihn Partei ergriff. Warum auch immer – der Krüppel hatte einen Narren an ihm gefressen.
    Die Diskussionen erschöpften sich irgendwann. Die Gesichter wirkten hitzig, die Augen müde und verquollen.
    Die glühende Sonne hatte ihren Zenit längst überschritten, und die Schwarzen erinnerten sich ihres Tagwerkes, das sie seinetwegen nach hinten verschoben hatten.
    Schließlich nickte Jambar seinem Sohn Wabo zu. Der zeigte ein Grinsen, das von Ohr zu Ohr ging, kam mühsam hoch und winkte Jean-François, ihm zu folgen, während sich die Versammlung ohne weitere Grußworte auflöste. Die Bäckerinnen banden ihre Schürzen um, der Fleischer sein blutiges weißes Tuch. Jäger griffen zu Speeren und zu fein geschmiedeten Beinfallen. Sie verließen das Dorf durch ein gut bewachtes Tor des übermannshohen Palisadenzauns.
    Wabo winkte ein weiteres Mal, diesmal forsch und ungeduldig. De Rozier folgte dem Schwarzen in einen entlegenen Winkel der Siedlung. Der Krüppel kroch mühsam durch einen niedrigen Eingang im Lehmbau, der im Schatten eines riesigen baobabs stand, und forderte ihn auf, es ihm gleichzutun. Nur widerwillig gehorchte de Rozier.
    Wenige Sonnenstrahlen reichten hier herein. Es dauerte eine Zeit, bis er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte.
    Wabo warf ihm zwei von Flöhen zerfressene Felldecken zu und befahl, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Dann deutete er auf seinen Mund, sagte etwas und forderte ihn dann mit einer herrischen Bewegung auf, die Worte zu wiederholen.
    Pilâtre de Rozier verstand: Er war nunmehr Eigentum des Krüppels, und er war aufgefordert, die Sprache der Ambassai so rasch wie möglich zu lernen.
    ***
    Es fiel ihm überraschend leicht, das Vokabular und die Grammatik der Schwarzen zu verinnerlichen. Wabo lachte ihn zwar oftmals aus und warf ihm vor, sich einen grässlichen Akzent anzueignen, doch das scherte de Rozier nicht. In dieser einfach strukturierten Gesellschaft ging es in erster Linie darum, sich die Achtung der anderen zu erkämpfen. Er war keineswegs bereit, sich an sein wie auch immer geartetes Sklavendasein zu gewöhnen. Wabo gab ihm ausreichend Nahrung, doch es waren lediglich die Überreste dessen, was der verkrüppelte Krieger von seinen eigenen Mahlzeiten übrig ließ.
    Wabo gefiel sich von Zeit zu Zeit darin, ihn mit niedersten Arbeiten zu demütigen. Wenn ihn des Nachts ebenholzschwarze Schönheiten besuchten und sich kichernd mit ihm vergnügten, hatte de Rozier im Morgengrauen die Ehre, die verschmutzten Decken zu reinigen. Auch ließ er ihn die Abtrittstellen, die sich nahe des Palisadenzauns befanden, ausschaufeln und in seltsamen Behältern auf handgezogenen Karren auf die Getreidefelder karren, damit er dort den stinkenden Dünger verteilte.
    De Rozier murrte und beklagte sich nicht, egal,

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