214 - Der Mann aus der Vergangenheit
nehmen können.
Ein Geräusch. Ein Gesang, wie in einer Litanei, mit dem grässlich verstimmten Organ eines versoffenen Klerikalen vorgetragen.
Einerlei, ob Pfaffe oder Pestkranker; selbst einen preußischen Hundesohn hätte er in diesen Minuten wie den liebsten Bruder umarmt und geherzt. Hier und jetzt legte er keinen Wert auf Standesdünkel oder Unterschiede in der Herkunft. Hauptsache, er konnte sich austauschen und in Erfahrung bringen, was in dieser terra incognita vor sich ging.
Leise schlich er von Baum zu Baum. Er verfluchte seine glatten Schuhe, die ihn immer wieder wegrutschen ließen. Doch endlich war es geschafft, die kleine Lichtung erreicht, in deren Mitte das Geschöpf saß, dessen Gesang er vernommen hatte. Es war in sich versunken, bis auf einen Lendenschurz nackt, und das eine Bein war unterhalb des Knies amputiert wie das eines Kriegsversehrten.
De Roziers Herz schlug bis zum Hals. Lichtstrahlen irritierten ihn, ließen ihn das Gesicht seines Gegenübers nicht erkennen. Er trat näher, mit vorsichtigen Schritten, die Hand an der Flinte und bereit, einen Angriff abzuwehren.
Sein Gegenüber rührte sich nicht, blickte lediglich müde hoch. De Rozier sah dunkle, traurige Augen in einem dunklen, traurigen Gesicht.
Ein Schwarzer, Ein Hottentotte, Kaffer oder Ashanti.
Ein Wilder, wie er in L’Afrique beheimatet war. Er trug eine primitive Tätowierung auf der Stirn, und er stank erbärmlich.
»Bonjour, mon ami«, sagte de Rozier und verneigte sich vorsichtig. »Auch wenn du hässlich wie die Nacht bist, freue ich mich, dich zu sehen.«
***
Er nannte sich Wabo, und er fühlte sich dem Volk der Masaaii zugehörig. Er betete zu Ngaai, dessen Aussehen und Kräfte reichlich unklar blieben. Die Sprache klang guttural und war mit einem besonderen Reichtum an ungewohnten Schnalzlauten gesegnet.
Das Dorf, in das Wabo ihn auf seinem Stock gestützt brachte, wirkte überraschend strukturiert. Allzu rasch musste de Rozier sein Urteil revidieren. Diese Wesen waren alles – nur keine Wilden.
Aus einer der vielen Lehmhütten, deren Dächer mit Stroh bedeckt waren, ragte ein metallenes Rohr hoch in die Lüfte. Es wirkte alt, uralt – und dennoch war das Material von einer Konsistenz und Güte, die de Rozier niemals zuvor gesehen hatte. Wabo geleitete ihn in die Hütte. Drei Weiber saßen hier an Tischen und walkten dunklen, körnigen Teig. Sie fertigten Brotfladen, die sie an einen schmiedeeisernen Ofen im Zentrum der Hütte verfütterten. Das Metallrohr stak daraus hervor und leitete den Rauch ab.
Es faszinierte de Rozier. Trotz der immensen Hitze streichelte er sanft darüber, achtete nicht auf die Brandblasen, die sich an seinen Fingern bildeten. Er scherte sich nicht um das Gekreische der Weiber, und auch nicht um den Massenauflauf, der sich außerhalb der Bäckerei gebildet hatte. Jedermann im Dort wollte ihn, den Hellhäutigen, sehen.
Wabo tat sein Bestes, den Ansturm abzuwehren. Trotz seiner Behinderung genoss er den Respekt seiner Landsleute. Allmählich verliefen sich die Schwarzen und ließen ihn alleine mit diesem Ofen und diesem wunderbaren, glatten Ofenrohr.
Es dauerte lange, bis er sich davon losreißen konnte.
Wabo führte ihn vor die Hütte. In Respektabstand warteten die Honoratioren des Dorfes. Frauen und Männer, in speckige Tierhäute gekleidet. Sie zeigten ernste Gesichter, als wären sie sich der Bedeutung dieses besonderen Augenblicks bewusst.
Pilâtre de Rozier wusste, dass er durch ein Traumland glitt, weitergereicht von Schicksalsdämonen, die sich an seinem Erstaunen und seinen Befürchtungen ergötzten.
Kein guter Gott konnte ihn in eine derartig verwirrende Situation stürzen. Die Liste seiner Sünden mochte lang sein, aber er hatte seinen Ablass immer brav bezahlt, und er hatte stets von ganzem Herzen bereut. Nein. Dies war ein Traum. Punktum.
»Dann werde ich ihn zu meinem Traum machen!«, sagte er kurz entschlossen. Er zog die Flinte, zündete die Lunte, drehte sich einmal im Kreis, sodass jedermann seine Waffe sehen konnte – und feuerte in die Luft.
Die meisten Masaaii warfen sich erschrocken zu Boden, manche flüchteten ins Innere ihrer Hütten. Die tapfersten Krieger griffen nach Messer und Speeren.
Pilâtre de Rozier legte die Waffe vorsichtig zu Boden, richtete sich wieder auf und reckte die nackten Hände in alle Richtungen.
»Ich weiß nicht, wo ich bin, und ich weiß nicht, wer ihr seid!«, rief er so laut wie möglich. »Vielleicht seid ihr der Ausbund
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