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214 - Der Mann aus der Vergangenheit

214 - Der Mann aus der Vergangenheit

Titel: 214 - Der Mann aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael M. Thurner
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die Macht der Klerikalen anprangerten und laut: »Ammenmärchen!« schrien, wenn im gemeinen Volk von den Gehilfen Satanas’ die Rede war. In diesen Momenten wäre es ihm einerlei gewesen, was die Meister der Ratio und Aufklärung über sein beschämendes Verhalten sagten.
    Das Höllenpferd, breit wie ein Haus, trabte schwerfällig an ihm vorbei. Womp. Womp. Womp. Es stieß Schleim aus seiner Nase, steckte den schrecklichen Kopf hoch in die Luft und brüllte ein weiteres Mal auf, nur wenige Schritte von de Rozier entfernt.
    Dann marschierte es davon, ohne sich umzublicken, und verschwand im tiefer werdenden Gras, das im Hinterland in dichten Wald überging.
    Pilâtre de Rozier wagte es nicht, aufzuatmen. Noch nicht. Die Teufel dieser Welt spielten womöglich ihre bösen Spiele mit ihm. Er musste ruhig bleiben, unter allen Umständen seine fünf Sinne beisammen halten.
    Die Dunkelheit kam mit erschreckender Plötzlichkeit.
    Sternbilder, die er niemals zuvor gesehen hatte, zeigten sich im Himmel. Überall raschelte es. Blätter unbekannter Herkunft flatterten im aufkommenden Wind. Geräusche, die er nicht einschätzen konnte, drangen aus dem Wald herüber.
    Kälte und Feuchtigkeit krochen in seine Glieder. Sie schwächten ihn, machten ihn zu einem jammernden und sein Schicksal beklagenden Wicht. Er fühlte die Erschöpfung, die über ihn kam. Nur zu gerne hätte er ein Feuer entfacht, um das Licht seines verblassenden Lebens zu erleuchten; doch hier gab es kein Reisig, und sein Zunder war nach wie vor feucht, Jean-François sammelte Gras rings um sich und häufte es in der Grube zu einer behelfsmäßigen Liegestatt an.
    Zitternd riss er sich die nassen Kleider vom Körper. In aller Stille rieb er sich trocken, bis die Haut zu brennen begann.
    Er war müde, unendlich müde. Die Aufregung, deren Odem seit Stunden durch sein Blut raste, verlangte ihren Tribut. Er musste ruhen, satanische Geschöpfe hin oder her.
    Pilâtre de Rozier zog die Beine an und raffte weitere Gräser über seinen Leib.
    Windböen pfiffen über die Grube hinweg und ließen ihn weitgehend unbeschadet. Mit einem letzten, völlig absonderlichen Gedanken glitt er hinüber ins Reich der Träume. »Es könnte schön hier sein!«, murmelte er.
    11. Ein neues Leben
    Die ersten Sonnenstrahlen rissen ihn zurück in die Wirklichkeit. Für einen Augenblick schien die Schöpfung den Atem anzuhalten. Jean-François bewunderte das gewaltige Naturschauspiel des neuen Tages mit der Naivität eines Neugeborenen. Wasser schäumte sanft gegen kantige Felsen, von ersten Lichtstrahlen benetzte Baumwipfel schaukelten im Wind, Tau tröpfelte zu Boden. Die Nachttiere schwiegen, und jene des Tages waren noch nicht bereit, ihre Stimmen zu erheben.
    Pilâtre de Rozier lebte. Das Schicksal gewährte ihm die Gunst weiterer Stunden. Er richtete sich auf. Er fühlte keine Angst mehr. Immer schon hatte er sich rasch an neue, ungewöhnliche Situationen angepasst. Nackt wie er war, marschierte er zum See hinab und trank. Dann urinierte er und marschierte zurück zu seinem behelfsmäßigen Lager.
    Seine Gedanken, weitaus klarer als noch gestern, zeichneten noch immer kein deutliches Bild dessen, was mit ihm geschehen war. Da war der Absturz gewesen. Der Aufprall. Ein neu gewonnenes Leben in einer völlig veränderten Umgebung. Nichts hier erinnerte an das geliebte Frankreich, dessen Boden er noch gestern vor dem Aufstieg im Luftschiff unter seinen Füßen gefühlt hatte. Dieses Land war das eines Traums.
    De Rozier gab sich einen Ruck. Er war Forscher und Wissenschaftler, und sein Geist klärte sich mit der Morgenfrische. Es würde sich feststellen lassen, ob die Welt, durch die er nunmehr wandelte, die eines guten oder eines schlechten Traums war.
    ***
    Nachdem er seine wenigen Gerätschaften einer Unterprüfung unterzogen und gereinigt hatte, fühlte er sich endlich wieder als Franzose. Er setzte sich die beinahe trockene Perücke aufs Haupt, atmete tief durch und marschierte in den Wald.
    Dämmerung umfing ihn. Die Bäume waren mächtige Bollwerke, die das Licht fernhielten. Geschöpfe huschten umher oder krächzten ihren Protest gegen sein Vordringen aus den hoch gelegenen Wipfeln herab. Die Tiere blieben unsichtbar. Sie schienen mit seinem Auftauchen ebenso wenig anfangen zu können, wie er mit ihnen.
    De Rozier hielt die Flinte bereit. Er hatte nicht vor, sich kampflos zu ergeben. Die Wärme des Tages schenkte ihm Lebensmut, und weder Tod noch Teufel würden ihm den wieder

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