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214 - Der Mann aus der Vergangenheit

214 - Der Mann aus der Vergangenheit

Titel: 214 - Der Mann aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael M. Thurner
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meiner Schimären, während ich irgendwo im Wasser dahin treibe, wirr träume und auf meinen Tod warte. Vielleicht ist dies auch die Wirklichkeit, und ein wundersames Schicksal hat mich hierher verschlagen. In diesem Augenblick ist es mir einerlei. Denn ich denke nicht daran, mein Schicksal einfach hinzunehmen und mich von meinen Dämonen hetzen zu lassen. Nein, meine Freunde! Ich bin Jean-François Pilâtre de Rozier, Franzose, Bürger und Untertan von Louis XVI. Ich entstamme einer großen Nation, vielleicht sogar der größten des Erdenballs. Ich denke gar nicht daran, mich einem ungerechten Schicksalsspruch zu beugen!«
    Er holte tief Luft, bevor er weiter sprach. »Ich sehe wohl, was ihr aus Eurem Dorf gemacht hat, und ich bewundere euch für eure Taten. Doch lasst euch von einem vielgereisten Mann sagen, der die wunderbare Stadt Paris seine Heimat nennt: Ich werde euch Dinge lehren, von denen ihr niemals zuvor gehört habt. Ich werde euch zeugen, was man mit Mut, Verstand und Leidenschaft alles schaffen kann. Ich werde euch in eine Zukunft führen, wie sie niemals zuvor auch nur angedacht wurde!«
    Die Kinder, Frauen und Krieger waren während seiner kleinen Ansprache wieder näher gekommen. De Rozier hatte all seine Überzeugungskraft verwendet.
    Sein Timbre, seine Stimme, seine Leidenschaft mussten das Manko ersetzen, dass man kein Wort dessen verstand, was er sagte.
    Verdutzt beobachteten ihn die Masaaii. Sie hatten angespannt seinen Worten gelauscht. Nachdem de Rozier geendet hatte, blieben sie ruhig, starrten ihn weiterhin an.
    Unangenehm lange währte diese Pause.
    Bis ein fünf- oder sechsjähriges Balg laut zu lachen begann und mit dem Finger auf ihn deutete. Bald fielen die Frauen ein, und dann auch die Männer.
    Sie alle deuteten gegen den Kopf. Eine unmissverständliche Geste. Die Masaaii hielten ihn für verrückt.
    ***
    Sie schlugen ihm die Flinte aus der Hand und zogen sie ihm über den Kopf, sodass er betäubt zusammenbrach.
    Dann brachten sie ihn zu Wabos Vater, Jambar Ngaaba.
    Er war Stammeshäuptling. Die Jahre hatten Spuren in seinem Gesicht und an seinem Körper hinterlassen.
    Narben, Falten und noch mehr Narben machten den vielleicht Fünfzigjährigen zu einer Ehrfurcht gebietenden Erscheinung.
    Der Alte sprach im Kreis weiterer Krieger und Frauen, die sich um einen holzgeschnitzten Pfahl versammelt hatten. Man rauchte ein Kraut, das bitter roch.
    Interessanterweise erhielten auch die Frauen die Gelegenheit, ihre Meinung kundzutun. Ein fettes Weib lief immer ins Innere des Kreises, der sich um ihn gebildet hatte, und jagte einem kleinen Gör hinterher, das gerade mal dem Krabbelalter entwachsen war und das sie Lazefa rief. Das Mädchen grinste Jean-François mit strahlenden Augen an, bevor es weitereilte, von der keuchenden Mutter verfolgt.
    Frauen in der Versammlung. Was für eine Seltsamkeit!
    In Frankreich gingen die Uhren anders. Der Marquis de Condorcet stellte zwar als Liberaler die krude Forderung nach einer Gleichstellung des weiblichen Geschlechts, und die selbsternannte Rechtsphilosophin Olympe de Gorges hatte nichts Besseres zu tun, als ihm in ihren Traktaten nachzukläffen. De Rozier hielt nichts davon. Auch wenn er sich als Kind der Aufklärung verstand – eine Frau hatte hinter dem Herd zu bleiben, ihrem Mann zu Diensten zu sein und ihm den Rücken zu stärken. Nicht mehr, und nicht weniger.
    Er verstand kaum ein Wort. Immer wieder beschwor man Ngaai, und manchmal fiel Wabos Name. Der junge, verkrüppelte Krieger genoss das Ansehen seiner Kumpane. Dennoch würde sein jüngerer Bruder Looimbo, links von ihm, eines Tages das Erbe des Vaters antreten, denn er war gesund und konnte auf beiden Beinen stehen.
    De Rozier wusste nur wenig über die africains. Der Kontinent war, so weit er in Erinnerung behalten hatte, von den zivilisierten Völkern Europas lediglich entlang der Küstenlinien ausreichend erforscht worden. Mutige Forscher waren oftmals an den Widernissen gescheitert, die das Landesinnere südlich der Großen Wüste mit sich brachten. Man munkelte von urtümlichen Monstren, von Menschenaffen mit gewaltigen Kräften und von Völkern, die in den dunklen feuchten Wäldern herrschten.
    Zeitungen und Magazine schwärmten von den gewaltigen Schätzen, die es zu heben galt, und von wundersamen Relikten.
    Die Araber aus Mauretanien und Tripolis waren die wahren Herrscher Afrikas. Sie durchquerten die gewaltigen Wüsteneien. Sie mordeten, vergewaltigten und verschleppten. Sie

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