2181 - Die Liebenden der Zeit
ein düsterer, bedrohlicher Schatten: Curcaryen lebte sie spürte das immer deutlicher. Und dieses Gefühl erfüllte sie mit Abscheu. Es gab Tage, da verweigerte sie jedes Essen, während sie an anderen heißhungrig alles in sich hineinschlang, was sie erreichen konnte.
Sie glaubte, dass Curcaryen sie auf Schritt und Tritt beobachtete. Wurde sie verrückt? Ihre Stabilisator-Fähigkeit versagte kläglich, sie schaffte es nicht, sich von den eigenen Wahnvorstellungen zu lösen. Vielmehr begann sie zu glauben, dass Varantir ähnlich empfinden musste. Fürchte dich!, dröhnten ihre Gedanken. Ich will, dass du dich verfolgt fühlst, dass du um dein Leben fürchten musst. Ich hoffe, dass du eine ebenso jämmerliche Existenz gefunden hast wie ich. Le Anyante konnte nicht anders, als ihren bizarren Wahrnehmungen nachzugeben. Ziel- und ruhelos streifte sie durch die Hallen und vernachlässigte sogar ihre Arbeit. Was immer sie auch antrieb, sie wollte Gewissheit.
Eines Tages wurde es extrem. Eine Gruppe von Potenzial-Architekten kreuzte ihren Weg. Alle waren imposante, groß gewachsene und kräftige Männer, die sie um halbe Körperhöhe überragten. Sie beachteten sie nicht, streiften sie höchstens mit missbilligenden Blicken. „Warum gefalle ich euch nicht?", wollte Le Anyante losbrüllen. „Ihr wisst ja nicht, wer ich wirklich bin." Sie schwieg. Weil der größte und eleganteste der Architekten abrupt auf den Hinterbeinen in die Höhe stieg und herumfuhr. Er starrte sie an. Sein brennender Blick fraß sich an ihrem fleckigen Fell fest, dann verzog sich seine Miene in einer verächtlichen Geste.
Le Anyantes Herzschlag stockte. Der Schweiß brach ihr aus allen Poren. In dem .Moment wurden ihre schlimmsten Befürchtungen wahr. „Curcaryen", keuchte sie entsetzt. „Curcaryen Varantir ..." Ihre Stimme bebte. Er kam auf sie zu. „Le Anyante", sagte er. „Ja, du bist es wirklich." Täuschte sie sich?
Schwang da nicht unsagbar viel Verachtung mit? Ehe sie reagieren konnte, wandte er sich schon wieder um und ging zu den anderen zurück. Stumm starrte sie hinter ihm her. Curcaryen Varantir war ebenso wie sie wiedergeboren worden. Aber welch himmelschreiende Ungerechtigkeit: Er besaß die Imposanz und Anmut, die sie an sich vermisste. Erst der Blutgeschmack im Mund schreckte Le Anyante auf. In mühsam verhaltenem Zorn hatte sie sich die Lippen aufgebissen.
Zweihundert Jahre ... sie waren vergangen wie ein Traum, an den sie sich niemals gewöhnen würde. Die Algorrian hatte versucht, Umbaria zu sein, konnte es aber nicht. Andererseits blieb ihr auch die Existenz als Le Anyante verwehrt. Ihr Zwiespalt war größer geworden, lag bedrohlich nahe an der Grenze zum Irrsinn, und sie verdankte es nur ihrer Zähigkeit, dass sie dieses Leben noch einigermaßen normal verbringen konnte. Nicht einmal ihr Partner, mit dem sie seit geraumer Zeit zusammenlebte, kannte ihr Geheimnis, und er würde es nie erfahren.
Verkrampft blickte Umbaria hinter ihm her, als er ging. Morstam würde für mehrere Jahre in Xantharaan unterwegs sein, ein Umstand, der sie wenig berührte. Als Partner war er weit unter ihrer Würde, ein Versager, der es auch in den kommenden Jahrtausenden zu nichts bringen konnte. Andererseits störten ihn weder ihr gnomenhafter Widerrist noch ihre stumpfe Mähne, weil er selbst keine bessere Statur besaß. „Archäologe" nannte er sich und verbrachte sein Leben damit, uralte, längst unlesbar gewordene Datenträger aller Völker zu restaurieren. Um die Geschichte der Sterneninsel zu dokumentieren.
Eigentlich hatte Umbaria-Le Anyante sich mit Morstam zusammengetan, um Varantir vergessen zu können. Ein Trugschluss, wie sie inzwischen wusste. Sie spürte Curcaryen Varantir, wo immer er sich auch befand. Es war, als existiere ein unsichtbares Band zwischen ihnen, das jeden stets wissen ließ, wo der andere sich aufhielt. Le Anyante hatte alles versucht, dieses Band zu kappen vergeblich. Welch unglaubliche Verschwendung hatte sich das Schicksal einfallen lassen, als es ausgerechnet sie beide auf diese Weise miteinander verbunden hatte? Le Anyante ertappte sich dabei, dass sie Curcaryen und Morstam miteinander verglich. Sie waren wie Feuer und Wasser. Varantir arbeitete auch in seinem neuen Leben als begnadeter Potenzial-Architekt. Aber damit begnügte er sich nicht. Schon vor Jahren hatte er die ökologische Gesellschaft gegründet, die sich für den Abbau der Fabriken von Geomm einsetzte und für eine vollständige
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