2181 - Die Liebenden der Zeit
ich mit Curcaryen so vieles zu bereden hätte. Nur unter größter Gefahr konnten wir uns einige Male sehen. Es überrascht mich, aber ich habe mich gefreut, ihm wieder zu begegnen. Ich spüre immer noch seine Hände im Nakken und sehe seinen stummen und verzweifelten Blick. Le Anyante Wortlos blickte sie ihren Sohn an. Nur seinetwegen hatte es sich gelohnt, alle Widerwärtigkeiten und die stete Gegenwart der Roboter zu ertragen. Curyen arbeitete als Techniker und war am Rande auch mit der wieder angelaufenen Herstellung von Zeitbrunnen befasst. Er war der Letzte, den sie in dieser Zeit hatte. Der Unfalltod seines Vaters hatte ihn ebenso gezeichnet wie Anyante selbst, die sich von dem Schreck nicht wieder erholt hatte. Stumm drückte er ihre Hände und strich sanft über ihr Gesicht. Curyen war etwas größer als die Algorrian früherer Epochen. Aber zugleich weniger aggressiv. Sie veränderten sich, wie alles im Kosmos in stetem Fluss begriffen war. Das Einzige, was Bestand hatte, war die Veränderung.
Nie hatte sie ihm ihr Geheimnis offenbart. Nun war es zu spät dazu, sie konnte nicht mehr reden, war nur noch unsagbar müde. Über dreitausendeinhundert Jahre war sie alt geworden, und nun starb sie zum ersten Mal eines natürlichen Todes. Womöglich fand die Wiedergeburt damit ein Ende. Sie wusste nicht mehr, ob sie das hoffen oder eher fürchten sollte. Curcaryen Varantir war schon sehr lange tot; sie hatte dieses Leben ohne seine Nähe zu Ende gebracht. Immerhin hatte sie, als sie noch jung gewesen war, jahrzehntelang nach der Ursache seines Ablebens geforscht. Curcaryen hatte offenbar einen Aufstand gegen die Kosmokratenroboter geleitet, der blutig niedergeschlagen worden war. Die Öffentlichkeit hatte nie davon erfahren. Aber das alles lag nun unendlich weit hinter ihr und war nicht mehr wichtig. „Ich verdanke dir viel", sagte Curyen. Sogar den Namen, vollendete sie in Gedanken. Curyen ist die Form größter Vertrautheit für Curcaryen. Le Anyante - lächelte. Und mit diesem Lächeln auf den Lippen schlief sie endgültig ein.
5.
Erst einhundert Jahre bin ich alt. Ich lebe wieder, nach mehr als zwanzig Jahrtausenden; der Kreislauf von Tod und Geburt wurde nicht durchbrochen. Was geschieht, wenn ich selbst Hand an mich lege? Ich hätte es gleich tun sollen, aber inzwischen spüre ich Curcaryens Nähe, und meine Neugierde ist stärker als mein Zorn über diese Welt. Tulacame ist ein bedrückender Albtraum geworden. Wir Algorrian leben wie Sklaven. Allein das wäre Grund genug, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Wäre da nur nicht der entsetzliche Gedanke, in einer noch schlechteren Zeit wiedergeboren zu werden. Mag sein, dass sich das Problem von selbst erledigt. Nur noch wenige tausend von uns leben auf Tulacame unter steter Bewachung. Mein Volk vermehrt sich nicht mehr, es wird aussterben. Deshalb habe ich den Namen abgelegt, den mir meine Eltern gegeben haben. Ich nenne mich wieder Le Anyante. Wie ich in meinem letzten Leben hieß, habe ich ohnehin vergessen. Das erscheint mir heute so unwichtig wie die Zahl der Blätter, die im Herbst vom Baum fallen.
Le Anyante Jahre vergingen, bis sie und Curcaryen Varantir trotz der Überwachung einen Weg fanden, sich zum ersten Mal in diesem Leben zu begegnen. Die Ablehnung, die sie einst füreinander empfunden hatten, war erst in Hass umgeschlagen und später in Gleichgültigkeit. Sie mochten sich noch immer nicht, obwohl ihre Körper andere waren und sie ein schönes Paar abgaben; er ein wenig größer als sie, beide mit ausgeprägten Rückenknochen und glattem Fell.
Für frühere Generationen wäre Curcaryen ein Hüne gewesen. Sie mochten sich nicht, aber sie hielten sich aneinander fest. Obwohl es schwer zu begreifen war, wusste jeder von ihnen, dass sie zusammengehörten. Wären sie sonst stets zur gleichen Zeit wiedergeboren worden?
Es gab sogar eine logische Begründung, die ihnen angenehmer war als das Eingeständnis gegenseitiger Faszination: Beide hatten ihren Widerstand nicht aufgegeben. Mehr denn je strebten sie für den kläglichen Rest ihres Volks nach Freiheit. Um ungestört planen zu können, mussten sie ein Paar werden. „Die Liebenden der Zeit ...", spottete Curcaryen. Zwei große Blutergüsse, die von Anyantes spontanem Tritt stammten, blieben ihm wochenlang erhalten. Sie lebten teils nebeneinanderher, teils miteinander, und sie gingen Arbeiten nach, die nichts mehr mit der Größe von einst gemeinsam hatten. Längst war es unmöglich
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