219 - Kaiserdämmerung
ihrer Nase. Es war Sarana. Zum Hundertsten Mal verfluchte sie Zordan, der ihr Geheimversteck Tala preisgegeben hatte. Herausfordernd schaute sie zu de Fouché. Als sie dem Blick seiner glasklaren Augen begegnete, schwand ihr Mut. Dieser Mann kannte keine Skrupel. Er würde sie alle töten!
Hilfe suchend schaute sie sich um. Doch vergeblich. Das Theater lag abseits der anderen Häuser, und der Hinterhof war umsäumt von kunstvollen Figuren aus Speckstein. Als sie ihre Mitstreiter sah, die wie Schlachtvieh auf dem Boden kauerten, kroch ohnmächtige Wut in ihr hoch.
»Ich habe keine Zeit für Spielchen!«, hörte sie de Fouché leise sagen. Gleichzeitig kamen drei Gardisten aus dem Haus geeilt. »Wir haben nichts gefunden«, meldeten sie. Der Kriegsminister nickte schweigend. Er zog seinen Degen und baute sich breitbeinig vor Sarana auf. »Wo ist dieser Zordan?«
»Fragt doch die Leibwächterin!«, platzte es aus Sarana heraus.
De Fouchés Augenbrauen schnellten nach oben. Ein überraschter Ausdruck huschte über sein Gesicht. Sarana erschrak: Sollte es doch nicht Tala gewesen sein, die ihr Versteck verraten hatte?
Der Kriegsminister lächelte kalt. Seine Degenspitze legte sich auf ihre Kehle.
An ihrer Seite keuchte der rothaarige Junge. »Lasst sie in Ruhe! Wir wissen nicht, wo Zordan ist. Er versteckt sich jeden Tag woanders. Sich und die Mappe! Er lässt uns nicht wissen, wo sein Versteck ist. Damit wir ihn nicht verraten können.«
De Fouché blickte den Jungen minutenlang an. Schließlich nahm er den Degen von Saranas Hals. »Ich bin es leid!«, flüsterte er kaum hörbar, um im nächsten Moment loszubrüllen. »Rechilje! Wir blasen die Suche ab! Ich werde mein Projekt jetzt zu Ende bringen!« Er machte kehrt und stampfte über den Platz. Mit einer Handbewegung deutete er über die Köpfe der Gefangenen. »Tötet sie! Tötet sie alle!«
***
15. Mai 2524, am Victoriasee
Gemeinsam mit dem Sonnenaufgang hatten Lay und ihre Gefährten die kleine Hafenstadt Arriver erreicht. Das große Boot mit dem riesigen Rad am Heck hatte sie über den See gebracht. Jetzt bewegten sie sich entlang der kleinen Stadtmauer in Richtung Wimereux-à-l ’ Hauteur, das in der Ferne wie eine Riesenblume zwischen Himmel und Erde hing.
Lay erfüllte ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken, die Wolkenstadt bald mit eigenen Füßen zu betreten. Sie mochte Städte im Allgemeinen nicht: Ihre Geräusche und Gerüche machten sie nervös. Ihre Menschen hatten lärmende Stimmen und unfreundliche Blicke. Noch nie hatte Lay erlebt, dass sie oder ihre pelzigen Begleiter in einer Stadt freundlich empfangen worden waren.
Aber Rulfan zuliebe würde sie es einige Tage in der Kaiserstadt aushalten. Mit beiden Armen umschlang sie die Taille ihres Geliebten, der vor ihr auf dem Kamshaa saß. Wortlos streichelte er ihre Hände. Seit sie vor Wochen das Luftschiff mit der Gruhfrau entdeckt hatten, waren seine Augen voller Sorge, sein Körper hart wie trockenes Holz, und jede Nacht schien er ungeduldig auf den Morgen zu warten, um schnell wieder aufbrechen zu können.
Und seit heute Morgen war er verschlossen wie die Morgenblüte einer Macacuja. Auf dem Boot erzählten ihm Leute aus Arriver, dass die kaiserlichen Soldaten die Gruh besiegt hätten. Der Kaiser wäre auch nach Wimereux zurückgekehrt, aber gleich wieder aufgebrochen: gemeinsam mit einem Fremden in einem Luftschiff, mit unbekannten Ziel. Inzwischen galten sie als verschollen. Manche glaubte sogar, sie wären tot, Böse Nachrichten, dachte Lay, und rieb sanft ihre Wange über Rulfans Rücken.
Inzwischen hatten sie das Ende der Stadtmauer erreicht. Sie gelangten auf einen breiten Pfad, der weiter vorne in eine üppige Grassavanne mündete. Rechterhand entdeckte Lay einen einzeln stehenden Flachbau. Auf einer angrenzenden Koppel scheuchte eine dicke Frau einen langhalsigen Laufvogel mit geplusterten Flügeln in Richtung Gatter. Ein Mann stand dort bereit, das Tier in Empfang zu nehmen. Doch der Vogel zog es vor, in der Koppel zu bleiben. Glucksend und singend schrien Vogel und Frau um die Wette.
Chira, die bisher ruhig neben dem Kamshaa hergetrottet war, blieb stehen und beobachtete den Tumult mit gespitzten Ohren. Der Vogel brach kurz vor dem Gatter zur Seite aus. Staub und Grasbüschel spritzten durch die Luft. Die Frau jammerte und der Vogel stob flatternd über die Koppel.
Anscheinend weckte seine Flucht die Jagdinstinkte der Lupa. Die Rufe ihres Herrn ignorierend, hetzte sie über das
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