219 - Kaiserdämmerung
Gras. Schon war sie am Gatter. Doch statt dem Vogel hinterher zu jagen, sprang sie kläffend und winselnd an dem Mann hoch, der dort stand.
Erstaunt richtet Lay sich auf. Die beiden schienen sich zu kennen. Jedenfalls breitete der Fremde seine Arme aus und gab begeisterte Laute von sich. »Victorius«, hörte sie vor sich Rulfan flüstern. »Victorius!« Mit einem Satz rutschte er von ihrem Reittier und rannte los.
Die Begrüßung der beiden Männer fiel derart stürmisch aus, dass sie zu Boden gingen. Während sie sich immer wieder aufs Neue umarmten, lenkte Lay ihr Kamshaa zur Koppel. Zarr, der ein wenig zurück geblieben war, hielt weiterhin Abstand und beobachtete die Szene skeptisch.
»Welch eine Freude, mon ami!«, hörte Lay Victorius rufen. »Welch eine Freude!«
»Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dich jemals wieder zu sehen!«, erwiderte Rulfan. Er schaute hinüber zu dem grünen Flachbau. »Ist sie da drinnen?«, wollte er wissen.
»Wer?«, fragte sein Freund.
»Na, Aruula!«
Lay sah, wie die roten Augen ihres Geliebten leuchteten. Er sprach diesen Namen aus, als würde er süßen Honig essen. Als Victorius ihm aber sagte, dass Aruula nicht hier sei, erlosch das Leuchten und verblasste die Freude in Rulfans Gesicht.
Lay war, als ob kalte Finger nach ihrem Herz greifen würden. Und sie ließen sich auch nicht abschütteln. Nicht, als Rulfan sie Victorius als »seine Liebste« vorstellte, nicht, als sie sich auf die Veranda des Gästehauses niederließen, um die vergangenen Erlebnisse auszutauschen, und auch jetzt nicht, da der Prinz über die angeblichen Verhältnisse in der Kaiserstadt berichtete.
»Die Zugänge zur Stadt sind gesperrt und die Situation dort oben ist völlig unklar« erklärte er gerade. »Wenn es stimmt, was die Leute berichten, ist aus meinem Halbbruder Akfat ein herrschsüchtiger Tyrann geworden! Er hatte schon immer den Hang zu dekadentem Hofverhalten, aber dass es einmal so enden würde…« Der Prinz strich sich über sein ebenmäßiges Gesicht. »Ihn als Ersten aufzusuchen, könnte ein Fehler sein. Zumal er in mir einen Konkurrenten sehen wird, der ihm den Thron streitig machen will.«
»Gibt es denn niemanden, dem du vertrauen kannst?«, fragte Rulfan.
»Doch! Ich habe gehört, ein alter Freund von mir sei in Wimereux: Zordan! Könnte aber sein, dass er dort oben als Gefangener festgehalten wird!«
»Das werden wir herausfinden müssen!« Rulfan strich abwesend über Lays Hand. »Bleibt nur noch das Problem, wie wir in die Stadt hineinkommen.«
»Nun, mir als kaiserlichen Prinzen sollte es doch gelingen, uns Zugang zur Stadt meines Vaters zu verschaffen.« Victorius sah entschlossen aus.
Lay hörte Zarr neben sich grunzen. »Gibt andere Möglichkeiten, in die Stadt zu kommen«, sagte sie mit rauer Stimme. »Müssen nicht gesehen werden.«
***
17. Mai 2524, Wimereux-à-l’Hauteur
Prinz Akfat stand am Fenster des Ratszimmers und starrte hinaus. Unten am Hangar entdeckte er Tala. Sie bestieg ein Trivelo, um über Doktor Aksela mit Zordan zu verhandeln. Das vereinbarte Treffen mit dem Anführer der Kinder der Nacht war gescheitert nach dem Massaker, das de Fouché bei ihrem Geheimversteck angerichtet hatte. Zordan musste glauben, dass Tala ihn verraten hatte. Es blieb fraglich, ob er sich von Aksela überhaupt noch zu einer neuen Zusammenkunft überreden lassen würde.
Warum habe ich Tala nicht früher geglaubt? Du bist ein Narr, Akfat de Rozier! Akfats Finger berührten sanft die Scheibe. Ob sie ihm je verzeihen würde?
Dank ihr wusste er nun über de Fouché Bescheid. Die fehlenden Informationen lieferte ihm Doktor Aksela, die tatsächlich geglaubt hatte, er wäre Teil dieser mörderischen Verschwörung. »Ich hielt Euch zumindest für verblendet, Excellenz«, erklärte sie entschuldigend, nachdem Tala es endlich gelungen war, sie von einer Aussprache mit dem Prinzen zu überzeugen. Mit ihren neuen Erkenntnissen versuchte die Ärztin nun diejenigen für einen Widerstand zu gewinnen, die bisher abgelehnt hatten, vor Angst, sich gegen einen Sohn des Kaisers aufzulehnen. Doch im Augenblick schien alles vergeblich.
Seit Tagen schon suchte der Prinz nach einer Lösung des Problems de Fouché. Seit Tagen wuchsen seine Befürchtungen, dass der Kaiser nie mehr zurückkehren würde. Vermutlich steckte auch hier der Kriegsminister dahinter. Aber er konnte ihm nichts beweisen. Weder in dieser Sache, noch zu den Vorgängen in den Verliesen.
Welche Chance hätte Talas
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