219 - Kaiserdämmerung
Dächer leuchteten golden in der Abendsonne, und landeinwärts sah Victorius Wimereux-à-l’Hauteur am Himmel schweben.
Als er das Ufer neben dem Kai erreicht hatte, verstaute er seine wenigen Habseligkeiten in seinen Rucksack und kletterte die Böschung zu den Hafenanlagen hinauf. Er fühlte sich gut und freute sich sogar ein bisschen, wieder zu Hause zu sein. Wer weiß, vielleicht werde ich sogar ein bekanntes Gesicht entdecken. Doch vermutlich würden ihn seine alten Bekannten nicht erkennen mit seinen geflickten Kniebundhosen, dem verwaschenen Rüschenhemd und seinem kurz geschorenen schwarzen Haar. Seine pinkfarbene Perücke hatte er im Rucksack gelassen.
Im Hafenareal empfingen ihn Rufe und Pfiffe von schreienden Händlern. »Gebackener Nilbarsch, der Herr?« Ein kleiner dicker Mann sah ihn forschend an. »Schilfmatten, günstige Schilfmatten!«, rief eine Frauenstimme von der anderen Seite.
Victorius lehnte dankend ab und drängte sich durch die Menschenmenge vor den Marktbuden. Ganz Arriver schien hier versammelt zu sein. Wer nicht verkaufte oder kaufte, traf sich zum allabendlichen Klatsch. Überall entdeckte der Prinz einzelne Gruppen von Männern und Frauen, die sich wild gestikulierend unterhielten. Ihren düsteren Gesichtern nach zu urteilen, ging es um keine erfreulichen Themen.
Nur die Kinder tollten jauchzend zwischen den Beinen der Erwachsenen umher.
Victorius überlegte kurz, ob er sich einen Tee besorgen und zu den Leuten stellen sollte, um den Grund ihrer Diskussionen zu erfahren. Schließlich blieb er aber bei seinem ursprünglichen Plan, eine Taverne aufzusuchen und erst mal etwas Anständiges zu essen. Der gemütlichste Ort, Neuigkeiten zu erfahren, dachte er und bog in eine Gasse, die von kleinen Tavernen gesäumt war. Er wählte eine, die er von früher her kannte. Laute Stimmen drangen aus ihren Fenstern.
Als der Prinz den Schankraum betrat, verstummten die Stimmen. Ein halbes Dutzend Männer musterten ihn neugierig von einem Tisch aus. Victorius nickte ihnen freundlich zu. Stumm erwiderte sie seinen Gruß und setzten ihre Gespräche in gedämpfter Lautstärke fort. Feine Rauchschlieren hingen über ihren Köpfen. Auf der langen Theke neben dem Tisch standen kleine Weinpfützen und es roch nach altem Bratöl. Das Ganze sah nicht gerade einladend aus. Ich werde mir besser was anderes suchen, dachte Victorius und wandte sich wieder der Tür zu.
Doch die Worte von einem der Männer ließen ihn aufhorchen. »Ich sage euch, sie halten Zordan gefangen. Oder warum sonst kehrt er nicht zurück? Der Junge hat diesem gierigen Prinz Akfat den Marsch geblasen, und das hat der feinen Kaisergesellschaft nicht gefallen. So einfach ist das!«
Wie vom Schlag gerührt, blieb Victorius stehen. Redeten sie etwa von seinem Bruder Akfat? Und von dem Zordan? Auf dem Absatz machte er kehrt und bewegte sich langsam zum Tresen. Dabei warf er den Männern einen verstohlenen Blick zu.
Ein dünner Mann wiegte seinen grauen Krauskopf. »Die Stadt ist seit Wochen wegen der Aufständischen von der Außenwelt abgeriegelt. Vielleicht kommt Zordan deshalb nicht wieder«, wandte er ein.
Daraufhin schlug ein anderer mit der flachen Hand auf den Tisch. »Turlututu, Aufständische! Es sind unzufriedene Stammesführer aus dem Umland! Nicht mehr und nicht weniger. Du bist unser Bürgermeister! Und wir erwarten, dass du dich ihren Beschwerden anschließt! Komm ihrer Aufforderung nach und ziehe mit dem Stadtrat nach Wimereux!«
Victorius hatte inzwischen auf einem der Thekenhocker Platz genommen. Eine dicke Frau mit wogenden Brüsten und rotem Turban eilte herbei. »Was darf ich dir bringen?«
»Wein und ein Stück gebratenes Wakudafleisch«, antwortete der Prinz kurz angebunden. Er wollte nichts von dem Gespräch in seinem Rücken verpassen.
»Hier gibt es nur Fisch, der Herr«, entgegnete die Frau mit spitzer Stimme.
»Auch gut!« Victorius war nur mit halbem Ohr bei ihr. Der Bürgermeister hatte gerade zu bedenken gegeben, welche Konsequenzen ein unbesonnenes Handeln bei der Rückkehr des Kaisers nach sich ziehen konnte. Daraufhin erhoben sich wütende Reden über den Herrscher. Der Mann, der vorhin auf den Tisch geschlagen hatte, übertönte sie alle: »Wieso überhaupt verlässt der Kaiser in solchen Zeiten sein Land? Und warum überlässt er das Regieren diesem Blut saugenden Prinzen Akfat?«, brüllte er. »Er kann sich seine Konsequenzen sonst wohin stecken, wenn er zurückkehrt!«
Einen Augenblick lang wurde
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