Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
219 - Kaiserdämmerung

219 - Kaiserdämmerung

Titel: 219 - Kaiserdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mia Zorn
Vom Netzwerk:
stimmte, das Member ihm genannt hatte, fehlte ihm sogar die Erinnerung an ein komplettes Jahr! Er wusste nur noch, dass er seinem Vater die PARIS gestohlen hatte, um einer Stimme zu folgen, die ihn an einen Ort jenseits des Ozeans rief. Wo das Luftschiff abgeblieben war, was ihn jetzt in den Norden des Victoriasees verschlagen und was er in diesem vergessenen Jahr getan hatte, blieb vorläufig ungewiss.
    »Die Erinnerung kehrt wieder, wenn du so weit bist!« Die Worte des Eremiten klangen in Victorius’ Kopf wider. »Vielleicht früher, als es dir lieb ist.«
    Was meint er damit? Glaubt Member, ich hätte so Schreckliches erlebt, dass ich es nicht verkraften würde? Vielleicht den Tod eines geliebten Menschen?
    Victorius schüttelte den Kopf. Da gab es niemanden, den er geliebt hatte. Niemanden. Nur Titana, seine Zwergfledermaus. Tatsächlich hatte er in den ersten Tagen seiner Genesung daran gedacht, in die Wüste zurückzukehren, um sie zu suchen. Member hatte ihn für verrückt erklärt. Und das war es auch: verrückt! Natürlich hatte er inzwischen seinen Plan verworfen. Dennoch blieb in einem Winkel seiner aufgewühlten Seele der Wunsch, viele Meilen zwischen sich und den Victoriasee zu bringen. So weit wie möglich fort von der schwebenden Kaiserstadt Wimereux-à-l’Hauteur. Ob nun die Wüste im Norden, der Wildwald im Westen oder das ferne Kenia im Osten – ganz egal! Hauptsache, fort aus dem Dunstkreis des Kaisers.
    Aber im Moment war an eine Weiterreise nicht zu denken. Victorius war froh, wenn er überhaupt zwei Stunden außerhalb seines Bettes verbringen konnte, ohne dass ihm schwindelig wurde oder er sofort wieder einschlief. Warum überhaupt aufstehen?, dachte er und ließ sich entmutigt auf sein Lager fallen.
    Als ob Member seine Gedanken erraten hätte, rief er von draußen: »Na Söhnchen, ein wenig Hirsebrei?«
    Victorius zögerte. Weder auf Brei, noch auf die Gesellschaft des Alten hatte er Lust. Aber wenn er ablehnte, würde Member keine Ruhe geben und ihn wieder mit quälenden Fragen löchern! Also schleppte er sich auf die Veranda. »Bon jour, Väterchen«, brummte er und drückte sich schwerfällig auf die Holzbank an der Hüttenwand. Verstohlen blickte er über den Tisch.
    Member nickte ihm freundlich zu. In seinem wettergegerbten Gesicht funkelten kleine graue Augen unter buschigen Augenbrauen hervor. Ein spitzbübisches Lächeln lag um seine breiten Lippen. Eifrig reichte er ihm eine Schüssel mit gelblichem Inhalt und einen dampfenden Becher mit Tee. »Iss und trink. Das gibt dir Kraft für den Tag!«
    Der Prinz lachte bitter. »Es wird ausreichen, um es wieder ins Bett zurück zu schaffen!«
    Member spielte mit seinem langen weißen Bart. »Du hast genug geschlafen die letzten Wochen. Zeit für ein neues Kraut! Trink, trink! Du siehst erholt und frisch aus. Dein Körper will jetzt wieder etwas zu tun haben. Aber wir dürfen ihn nicht überfordern!«
    Victorius schaute den Alten aus zusammengekniffenen Augen an: Frisch und erholt? Machte Member sich über ihn lustig? Der Eremit beachtete nicht seinen prüfenden Blick. Geschäftig entkernte er Datteln und häufte die Früchte in eine Schale. »Große Aufgaben warten auf dich im Reich deines Vaters. Du musst wach und stark sein, wenn es so weit ist! Nicht wahr?«
    Victorius schob die Schüssel von sich und verschränkte die Arme. »Im Reich meines Vaters gab und gibt es nichts für mich zu tun. Ich gehe nicht zurück!«
    »Ach nein? Willst du denn nicht nach Hause, Söhnchen?«
    »Es gibt am Victoriasee kein Zuhause mehr für mich. Überhaupt kann ich mir keinen Ort auf dieser Welt vorstellen, an den ich gehöre. Und was soll ich mit einer Aufgabe? Schau mich an: Ich bin zu nichts zugebrauchen!«
    Member lachte leise. Irritiert schaute der Prinz ihn an. »Was gibt es da zu lachen?«
    »Schau hier!«, der Alte schob ihm eine geöffnete Dattel über den Tisch. Ein kleiner Wurm reckte sich aus der Frucht. »Selbst dieser Wurm gehört irgendwo hin! Seine Aufgabe ist es zu fressen, um zu leben. Willst du mir erzählen, dass es bei uns Menschen anders sein soll?«
    Victorius schnippte das Tier über den Tisch ins Gras. Sofort flatterte eines der wilden Hühner herbei und holte sich den Leckerbissen. Herausfordernd schaute der Prinz den Alten an.
    Member grinste. »Er hat seine Bestimmung gefunden. Auch wenn du nachgeholfen hast. Eine Dattel?«
    Victorius lehnte dankend ab. »Lass es gut sein, Member. Ich bin dir dankbar für deine Pflege und die

Weitere Kostenlose Bücher