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22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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gebliebener Diamant vor, der es wohl wert war, daß ich ihm Beachtung schenkte. –
    Diese Gedanken begleiteten mich, als ich den Berg hinabgetragen wurde – Schloßberg, hätte ich beinahe gesagt. Der Weg war breit und wohlgepflegt und von ausgewählten Bäumen, Ziersträuchern und schön blühenden Pflanzen besetzt. Ich habe daheim so manches Schloß gesehen, welches keinen von so verständiger Hand angelegten Aufgang hatte. Jede Krümmung war berechnet, einen neuen und immer wieder schönen Blick über das Tal zu bieten. Wenn der Ustad aus seinem ‚hohen Hause‘ trat, um diesen Weg nach dem Duar hinabzusteigen, wie mußte er sich da seines Werkes freuen! Und jeder, der zu ihm emporzugehen hatte, konnte das nur mit Dank und Liebe tun!
    Daß dieses letztere der Fall sei, sah ich jedem an, der uns begegnete. Wie freundlich waren diese Leute und wie gern gaben alle ihre Grüße! Ich bemerkte keinen neugierigen, unbescheidenen Blick, und kein einziges güteloses Auge. Selbst die Kinder winkten mir mit ihren kleinen Händen zutraulich grüßend zu, und einige Male hört ich, daß ich von ihnen ‚Dust-y-Duar‘ (Freund des Dorfes) genannt wurde. Dieses allgemeine und ungekünstelte Wohlwollen hätte in mir ganz dasselbe Gefühl erwecken müssen, wenn es nicht schon vorhanden gewesen wäre. Ich bin gern zu Vergleichen geneigt. Beim Anblick der hoch aufstrebenden Berge und des sich zwischen ihnen hinziehenden Ortes zeigte mir die Erinnerung jene ebenso gelegenen Gebirgs- und Alpendörfer, in denen man nur von der Habsucht empfangen, von dem Eigennutz zu Tisch geführt und von der Ausbeutung auf Schritt und Tritt belästigt zu werden pflegt. Du armes, armes Kurdistan, wie fern bist du doch davon, ein menschlich kultiviertes Land genannt zu werden!
    Tifl ging voran. Man ahnt wohl kaum, was diese drei Worte sagen! Jede seiner Bewegungen verkündete: Dieser Effendi hinter mir ist meinem Schutz für den ganzen Tag anvertraut worden! Ich bin zwar nichts, gar nichts weiter, als ihr alle seid, aber heut muß ich doch bitten, mich als Respektsperson zu betrachten! Er trug Sandalen und hatte seine Spinnenmütze durch ein buntes, malerisch um den Kopf geschlungenes Tuch ersetzt. Man grüßte ihn heut anders als wohl sonst. Warum auch nicht? Dünken nicht auch wir uns, ganz andere Menschen zu sein, sobald wir unsere Lenden durch den Frack entblößt und unsere gesellschaftliche Bedeutung in dunkelzylinderhafter Weise ‚behauptet‘ haben? Das Festkleid stimmt den Menschen feierlich, und in feierlicher Weise geschah alles, was ‚unser Kind‘ am heutigen Tage tat.
    Indem wir quer durch das Dorf kamen, sah ich die Bewohner desselben erwartungsvoll vor den Türen stehen. Sie hatten ihre besten Sachen angelegt und trugen Blumen in der Hand oder auf der Brust. Jedermann hatte Gäste, die von auswärts angekommen waren. Die Männer waren unbeschäftigt; die Frauen und Mädchen aber hatten mit allerlei Vorbereitungen zu tun, welche darauf schließen ließen, daß man heut nicht hier unten sondern oben auf dem Berg speisen werde.
    Der Weg, welcher jenseits hinaufführte, war ebenso in Serpentinen angelegt wie der, den wir von unserem Haus herabgekommen waren. Auch seine Einfassung zeugte von denselben sorgfältig pflegenden Händen. Aber ich achtete weniger auf ihn selbst, als vielmehr auf die Aussicht, welche er nach der Seite des ‚hohen Hauses‘ bot. Ich sah es heute zum ersten Mal liegen. Seine ganze Front lag vor meinen Augen. Sie wuchs immer deutlicher aus dem jenseitigen Berg heraus, je höher ich auf den diesseitigen hinaufgetragen wurde. Was von da drüben zu mir herüberschaute, war mir ein Rätsel, ein großes, großes baustilistisches Rätsel. Es zog meine Blicke förmlich zu sich hinüber, und es kostete mich eine Art von Selbstüberwindung, sie schließlich davon abzuwenden, weil ich den Anblick nicht langsam, nach und nach entstehen, sondern plötzlich, auf einmal, in seiner ganzen Ungeteiltheit auf mich wirken lassen wollte. Und sonderbar: Kaum hatte ich diesen Entschluß gefaßt, so drehte der auch jetzt noch immer voranschreitende Tifl sich um und sagte:
    „Ich bitte dich, Effendi, jetzt nicht zum ‚hohen Haus‘ hinüberzuschauen!“
    „Warum?“, fragte ich.
    „Unser guter Ustad gebot mir, dich darum zu bitten.“
    „Hat er dir einen Grund mitgeteilt?“
    „Er sagte etwas, was ich nicht verstehe. Er sprach von einer langen, langen Zeit.“
    „Von welcher Zeit?“
    „Von der, die noch vor der großen Flut

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