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22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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gewesen ist, die einst über die ganze Erde ging. Seitdem sind viele tausend Jahre vergangen.“
    „Was hat das aber mit deiner Bitte zu tun?“
    „Das ist es ja, was ich nicht begreife. Du sollst diese vielen tausend Jahre nicht nach und nach mit deinen Augen durchleben, indem du unterwegs unausgesetzt hinüberschaust. Sondern du sollst warten, bis du oben angekommen bist und unter unseren Säulen sitzt. Dann wirst du staunend diese ganze, lange Zeit mit einem Mal vor dir liegen sehen und sie vielleicht vom ersten bis zum letzten Augenblick begreifen.“
    „Ich werde diesem deinem Rat folgen, mein lieber Tifl.“
    „Ja, tue es! Und noch etwas habe ich dir zu sagen. Darf ich gleich jetzt, damit ich es nicht vergesse?“
    „Gewiß!“
    „Du sollst bemerken, daß der Berg der Vater dieses Hauses ist. Es tritt nur vorn aus ihm heraus. Die innere Seite liegt in ihm verborgen. Rechts und links am Berg siehst du die Brüche, aus denen die Steine zum Bau des Hauses stammen. Sie liegen so verschiedenartig übereinander wie die Stockwerke des Gebäudes. Unten dunkel, nach oben immer heller werdend. Nie ist ein fremder Stein zu diesem Bau verwendet worden. Nur die Menschen, welche die verschiedenen Stockwerke aufeinander gesetzt haben, sind aus fremden Ländern gekommen und nach ihrer Zeit wieder in der Fremde verschwunden. Unser Ustad sagte, das sei so Erdenbrauch.“
    Wir waren jetzt an eine Biegung gekommen, welche wie ein Altan aus dem Berg hervortrat. Hier ließ Tifl halten, um mich die sich hier bietende, herrliche Aussicht genießen zu lassen. Er hob die Hand gegen das ‚hohe Haus‘ und sagte:
    „Ich zeige zwar hinüber, doch schaue nicht hin. Hier, wo wir uns befinden, stand unser Ustad einst mit einem fremden Mann, welcher gekommen war, uns seine Religion zu bringen. Er behauptete, die unsere werde uns nicht in den Himmel, sondern in die Hölle führen. Als er aber einige Zeit bei uns gewohnt hatte, erkannten wir, daß sein Himmel, wenn alle Seligen darin ihm glichen, für uns eine Hölle sein würde. Er mußte wieder gehen. Am Tag, bevor er uns verließ, ging der Ustad mit ihm hier herauf. Sie blieben hier, wo wir uns jetzt befinden, stehen. Der Fremde schüttelte den Kopf über unser ‚hohes Haus‘. Er meinte, daß es ein ganz gedankenloses, häßliches Gebäude sei. Sie hatten mich mitgenommen. Ich befand mich bei ihnen und hörte also, was ihm der Ustad antwortete.“
    „Nun, was?“
    „Das kann ich nicht so schnell sagen. Ich muß in die Erinnerung hinabsteigen, um es dir heraufzuholen.“
    Er sann eine Weile nach; dann sprach er weiter:
    „Ihr fremden Gäste seid doch sonderbare Leute! Ihr kommt hierher und tretet mit Forderungen und Änderungen an uns heran, als ob dies Land nicht uns, sondern euch gehöre und wir eure Gäste seien. Ein Gast kommt heut, verweilt einige Zeit und geht dann wieder fort. Er wird Spuren seines kurzen Besuches zurücklassen; aber wenn er ein verständiger Mann ist, wird er darauf verzichten, unsere Berge umzustürzen und unsere Täler auszufüllen. Die Erde ist diesem Tal gleich; der Mensch kommt als ihr Gast. Auch die Völker sind nur Gäste. Sie lassen Spuren davon zurück, daß sie dagewesen sind; aber die Berge in die Täler stürzen und die ganze Erde in ein einziges großes Feld verwandeln, auf dem es nichts als allgemeine Gleichheit geben würde, das wird kein noch so großer Mann und kein noch so mächtiges Volk fertigbringen. Und das ist ein Glück. Durch diese Ausgleichung würde alles Leben auf der Erde bald vernichtet werden. – So lautete der eine Gedanke des Ustad.“
    Er dachte wieder nach und fuhr dann fort:
    „Du kommst zu uns, um uns diese Gleichheit aufzuzwingen. Du forderst die Vernichtung des Bestehenden. Du sprichst von einer anderen, höheren Kultur. Grad so wie du hat bisher noch jeder Mensch und jedes Volk von der seinigen gesprochen. Und die nach uns kommen, werden von der ihrigen ganz dasselbe sagen! Du hast das Bauwerk da drüben als häßlich, als sinnlos bezeichnet; ich aber sage dir, es hat nicht nur Sinn, und zwar einen tiefen, tiefen Sinn, sondern es ist eine ganze, ganze Predigt, eine so gewaltige Predigt, wie du mir wohl keine halten kannst! Wer hat diesen Bau errichtet? Etwa ein einziger Meister? Während kurzer Lebenszeit? Die Jahrtausende kamen und gingen; die Völker sind gekommen und gegangen; die Zeit war mit der Menschheit Gast auf Erden, und jeder Gast hat die Spur von dem zurückgelassen, was er hier in dieser seiner Fremde

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