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22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Stimme hinter mir: „Friede sei mit dir!“ Ich richtete mich auf und wandte mich um. Wer war die hohe, patriarchalische Gestalt, welche leuchtenden und doch so gütigen Auges vor mir stand? War es der erste der Erzväter, zu dem zu dritt die Engel kamen, um bei ihm einzukehren? War es Abraham, Tharahs Sohn, der aus Ur, im Lande der Chaldäer, stammt? Ja, gewiß, er war es; er mußte es sein; aber nicht so alt wie im Haine Mamre und auch nicht so jung wie in Mesopotamien, und doch beides, alt und jung zugleich! Ich schaute in ehrerbietigem Staunen zu ihm auf. Ja, ich schaute! Ich hatte die Augen wieder geöffnet. Ich war nicht mehr geistig dort in El Chalil, sondern wirklich hier im kurdisch-persischen Gebirge. Ich befand mich auf meinem Krankenlager. Es war ringsum mit duftenden Veilchen geschmückt. Zu meinen Füßen saß Schakara, die Spenderin derselben, und zur Seite stand – – – Abraham, der Erzvater? Vielleicht hat dieser ein ganz genau solches einfaches, kamelhaarenes Gewand getragen wie der hochgestaltete, ehrwürdige Greis, den ich jetzt vor mir sah. Greis? Ja, denn der schneeweiße Bart, welcher ihm bis herab zur Gürtelschnur reichte, konnte nur eine Gabe des höchsten Menschenalters sein; aber das Ehrfurcht gebietende Angesicht war hochbetagt und jugendlich zugleich, und die voll und schwer vom Kopf herniederhängenden Haarflechten zeigten eine nicht etwa stumpfe und künstliche, sondern so echte und lebenswahre Schwärze, wie sie nur den Jünglings- und den kräftigsten Mannesjahren eigen ist. Ich sah wie vorhin mit geschlossenen, nun mit offenen Augen staunend zu ihm auf. Da lächelte er mild zu mir hernieder, breitete die Hand wie segnend über mich und sprach:
    „Friede sei mit dir!“ Das war dieselbe tiefe, klangvolle Stimme, welche ich vorhin am Brunnen Abrahams gehört hatte. Es ging ein geheimnisvolles, köstliches Imponderabil von diesem Mann aus. Es kam zu mir, durchflutete mich, zog mich zu ihm hin. Ich konnte gar nicht anders, ich durfte ihm nur die eine Antwort geben: „Du bringst ihn mir. Mein Dank und Segen sei dein Eigentum!“
    „Die Jugend ist beim Alter, der Sohn beim Vater eingekehrt“, fuhr er fort. „Die Liebe soll dich hier mit mir vereinen. Vertraue uns, so wirst du bald gesunden. Ich lege dir die Hand auf das kranke, müde Haupt. Aaleïk essallam u rahhmet Chodeh – der Friede und die Barmherzigkeit Gottes sei mir dir!“
    Er ließ seine Hand fast eine Minute lang auf meiner Stirn liegen. Sie war so warm und doch so eigen frisch. Ich griff nach ihr und führte sie an meine Lippen. Er ließ das geschehen, hob aber dann den Finger und sprach, indem sein Mund fast schalkhaft lächelte: „Verschweige dies daheim! Wie darf das Abendland die Hand des Morgenlandes küssen! Man würde dich wohl kaum begreifen können!“
    Hierauf wendete er sich von mir und ging zu Halef hinüber. Das also war der ‚Ustad‘, der ‚Meister‘! Ich folgte ihm mit meinen Augen, weil es mir unmöglich war, sie von ihm abzuwenden. Fieberte ich etwa schon wieder? Es kam mir der sonderbare Gedanke: „Soeben hast du in das Angesicht des Orients geschaut.“ So eine Idee kann doch nur bei einem Kranken möglich sein!
    Er stand einige Zeit am Lager des Hadschi, ohne etwas anderes zu tun, als ihn zu betrachten; dann legte er auch ihm die Hand auf das Haupt, worauf er sich sehr ernsten Angesichts entfernte.
    „Das war er!“ sagte Schakara. „Dein Herz wird ihm gewiß bald angehören. Willst du nun die Harfe hören?“
    Ich nickte. Sie ging nach der Stelle, wo die Sandurah lag, hatte sie aber noch nicht erreicht, so blieb sie stehen. Der Hadschi hatte sich bewegt.
    „Sihdi – Sihdi – Sihdi!“ rief er laut.
    „Hier bin ich Halef“, antwortete ich.
    „Ich war ganz nahe, ganz nahe!“ fuhr er fort, ohne daß er die Augen öffnete.
    „Wo?“
    „Am Sterben, am Sterben! Ich habe sie gesehen, beide, beide, ihn und ihn!“
    „Wen?“
    „Den Hadschi und den Halef! Der Hadschi war ein anderer; der Halef aber, der war ich! Der Halef lenkte seine Schritte hinauf nach dem Paradies; der Hadschi aber hielt ihn fest, um ihn hinab zur Dschehennah zu zerren. Es war ein schwerer Kampf. Der Halef war nicht stark genug, und der Hadschi wollte eben siegen; da fühlte ich eine Hand auf meiner Stirn und war gerettet. Hamdullillah!“
    Seine Stimme hatte einen eigentümlichen, angstvollen, erschütternden Klang.
    „Warum antwortest du mir nicht?“ rief er. „Ich will noch leben; ich darf noch nicht

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