2207 - Der letzte Gesang
unterschied, war die Inbrunst: Atlan berichtete von seinem eigenen Schicksal, als er, kaum ein Mann, einen verzweifelten, aussichtslosen Kampf um sein Erbe, ja seine nackte Existenz gekämpft hatte.
Die Ballade ging zu Ende.
Ehrfürchtiges Schweigen hing über dem Platz. Eine der Wegweiserinnen in der ersten Reihe stieß einen lauten, trällernden Schrei aus. Die übrigen Wegweiserinnen stimmten ein, gefolgt vom gesamten Publikum. Zephyda und Atlan nahmen den Beifall mit gesenkten Köpfen entgegen.
Tränen traten in Rhodans Augenwinkel. Ihm war, als greife der Applausgesang der Motana nach seinem Innersten, überwände er alle Schutzmauern, die er um seine Emotionen gelegt hatte. Er wusste nicht, wieso, aber ein sicheres Gefühl sagte ihm, dass er den Gesang auch dann hören könnte, wenn er die Hände auf die Ohren gepresst hätte.
*
Langsam erstarb der Beifall. Rhodan und Lesyde waren an der Reihe. Rhodan erhob sich, gab Lesyde ein Zeichen und trat auf die Bühne. Das Mädchen kam zögernd auf die Beine, folgte steif und mit hängenden Schultern. Als sie an der Seite der Plattform, Stufen gab es keine, hochklettern wollte, rutschte sie ab.
Rhodan eilte zu ihr und hielt ihr die Hand hin. Lesyde ignorierte die Geste geflissentlich und zog sich mit einem verbissenen Ruck auf die Bühne. „Schaffst du es?", flüsterte Rhodan. „Du kannst es immer noch lassen. Niemand kann dich zwingen, mit mir aufzutreten."
Lesyde antwortete mit einem Schnauben und bedachte Rhodan mit einem wütenden Blick aus ihren Katzenaugen. „Danke, aber ich bin kein verschrecktes Kind."
„Wie du meinst."
Lesyde ging zur Bühnenmitte, Rhodan blieb an der Seite stehen. Das Mädchen hatte einen Teil seiner Fassung wiedergewonnen und starrte trotzig in das Publikum. Sorgfältig setzte die Motana die Füße nebeneinander, breitbeiniger, als man es gewöhnlich beim Stehen tat, aber nicht zu weit; in einer Stellung, die ihr optimalen Bewegungsspielraum gab.
Rhodan langte in die Tasche und zog den Goytaniknochen hervor, fühlte die Löcher, die er hineingebohrt hatte. Die Köche hatten ihm,unwissentlich einen Teil der Arbeit abgenommen, indem sie das Mark herausgelöst hatten. Rhodan ■ hatte lediglich an einer Seite ein Mundstück feilen und eine Reihe von Löchern bohren müssen, um eine primitive Flöte zu erhalten.
Es hatte mehrere Dutzend weitere Knochen gebraucht, bis Rhodan - eher durch Zufall als aufgrund von Planung - eine Flöte gelungen war, der er leidlich zufrieden stellende Töne zu entlocken vermochte. Mehr als einmal hatte Rhodan sich während des Ausprobierens eine Mundharmonika oder eine Gitarre gewünscht, aber beides war ungefähr so greifbar wie eine Raumschiffspassage nach Terra.
Rhodan setzte die Flöte an und blies probeweise einen Ton. Das Publikum antwortete mit überraschten Rufen. Lesyde sah ihn fragend an. „Einen Moment noch", sagte er.
Er streckte die Finger, ließ sie über die Löcher tanzen, atmete tief durch in der vergeblichen Hoffnung, dass sich sein Puls beruhigte.
Er sah zu Lesyde. „Okay, es geht los!"
Rhodan setzte die Flöte an und spielte. Es war ein langsames Lied, von seinem Schöpfer niemals als Tanzmusik gedacht, aber Rhodan hatte es trotzdem gewählt. Zum einen kannte der Terraner die Melodie so gut wie kaum eine zweite, selbst wenn beinahe dreitausend Jahre verstrichen waren, seit er sie zum ersten Mal gehört hatte. Zum anderen hoffte er, dass sie in den Motana dieselbe bittersüße Wärme auslöste wie in ihm.
Lesyde erwachte aus ihrer Starre und vollführte staksend die ersten Tanzschritte, die Rhodan ihr beigebracht hatte. Das Mädchen, das sonst geschickt wie ein Affe durch den Wald und die Bäume fegte, bewegte sich ungelenk, als stünde es auf trügerischem Untergrund, als könne jeder falsche Schritt seinen Untergang bedeuten. Aber das war Rhodan egal: Lesyde tanzte, nur das zählte, und er spielte die Flöte.
Der Terraner blickte ins Publikum. Er sah in weit aufgerissene Katzenaugen, verwirrte Gesichter. Die Motana saßen still und reglos da und verfolgten das Geschehen auf der Bühne, wo Rhodan das Lied spielte, das sich ihm als Sechzehnjähriger eingeprägt hatte: Es war Woody Guthries „This land is your land, this land is my land". Es war das erste Konzert für den jungen Perry Rhodan gewesen - und eines der letzten für Woody Guthrie, bei dem noch im selben Jahr eine Nervenkrankheit diagnostiziert worden war, an der er sterben sollte. ■ Die Starre der Motana
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