223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
geht raschen Schrittes weiter die schmale Straße hinunter. Er hat den festen Willen, nichts mehr zu sehen und nichts mehr zu hören. Bis heute ist fraglich, ob ihm das auch gelungen ist.
Eine vielleicht 3 Meter hohe Mauer aus unbehauenen Feldsteinen, eine mächtige Böschungsmauer hält das Baierböcksche Häuschen am Abhang des Priel, in den es sich geradezu verkrallt, um nicht abzurutschen. Fluchend umgeht der bullige Soldat, der von der nahen Straße zum ärmlichen Anwesen des Maurers Johann Baierböck in Hofamt Priel Nr. 40 hochgestiegen ist, das Hindernis und findet dank seiner Stabtaschenlampe das Wegerl, das rechts um die steinbewährte Hangsicherung durch den Hausobstgarten führt. Nun erst sieht der späte Besucher im Lichtschein das grob gemauerte und verputzte ebenerdige Häuschen, die kleinen mit Kalkumrandungen verzierten Fenster, den hölzernen Walmdach-Aufsatz mit dem Dreiecksgiebel und die aus rohen Brettern gezimmerte Haustür. Gar nicht so einfach zu finden, denkt der Soldat. Mit der Faust klopft er kräftig gegen die Türbretter und horcht. Er pocht noch einmal. Keine Reaktion. Nur der feuchte, regnerische Wind ist zu hören, der in die Baierböckschen Obstbäume fährt. Der Soldat geht ein paar Schritte nach links und versucht es an einem Fenster knapp über einem hüfthohen Stoß aus sorgfältig geschlichtetem Scheiterholz. Er klopft ungeduldig und hört aus der Kammer alsbald ein unwilliges Krächzen und dann Geräusche, wie wenn jemand schlaftrunken in hölzerne Hauspantinen fährt und dabei stolpert oder im Dunkeln versehentlich gegen einen Kasten oder einen Bettpfosten rennt.
Im Gegensatz zu ihrem Mann und ihren 3 schon erwachsenen Kindern in der Kammer nebenan und dem einquartierten Wehrmachtsoberfeldwebel im Kabinett schläft die 47-jährige Haushälterin Johanna Baierböck für gewöhnlich schlecht. Ihr Schlaf ist so leicht wie Spinnweben, Nacht für Nacht schreckt sie aus Angstträumen auf, in denen mongolische Horden über die Baierböckschen Vorräte in Haus und Hof herfallen. Doch am Abend des 2. Mai 1945 fällt die Baierböckin, die sich mit ihrem Mann gegen 22 Uhr zur Ruhe begeben hat, unversehens in einen tiefen Schlaf, in den ersten richtigen Schlaf, seit die Rote Armee Wien erobert und hier, aber auch anderswo das große Fürchten begonnen hat.
Sie hat das Gefühl, nicht länger als vielleicht 2 Stunden geschlafen zu haben, und öffnet wenig erfreut einen Flügel des Fensters. Wird schon kein Moskowiter sein, denkt sie, die werden doch gerade östlich von Melk erfolgreich aus ihren Stellungen geworfen, ja auf breiter Front zurückgetrieben, wie im Volksempfänger zu hören gewesen ist.
»Was gibt es denn?«, fragt Johanna Baierböck in das dunkle Männergesicht, das sich im Fenster zeigt. Von draußen weht ein feuchter, kalter Hauch ins Zimmer.
»Sagen Sie dem Oberfeldwebel, der bei Ihnen einquartiert ist, dass er nicht glauben soll, der Feind ist da, wenn er heute Nacht schießen hört. Ist nur eine Übung. Eine Waffenübung der SS.«
Ob sich Johanna Baierböck in diesem Moment bewusst ist, dass sie jemandem ins Antlitz blickt, der sich vielleicht schon aufs Töten freut? Wohl kaum. Sie sieht nur ein gewöhnliches, stoppelbärtiges Soldatengesicht unter einem Stahlhelm und hört eine unaufgeregte, aber auch irgendwie barsche Stimme, die von der Aussprache her, so wird sie sich später erinnern, keinen ostmärkischen Akzent aufweist. Johanna Baierböck ist Haushälterin bei besseren Leuten drunten in Persenbeug. Sie ist es seit eh und je gewohnt, Anordnungen entgegenzunehmen und unverzüglich auszuführen. Sie nickt.
»Heil Hitler!«, verabschiedet sich der Soldat und verschwindet in der stockdunklen Nacht. Er ist schon auf dem Weg zum Nachbarhaus, wo ebenfalls Wehrmachtsangehörige einquartiert sind, und wird dort die Besitzerfamilie Spindelberger genau wie Johanna Baierböck instruieren. Als eine dreiviertel Stunde, vielleicht eine Stunde später die ersten Schüsse fallen, ist niemand beunruhigt.
»Nur gut, dass mein Johann da nicht mitüben muss!«, denkt die ins Ehebett zurückgekehrte Baierböckin und taucht wieder ein in den traumlosen Schlaf, den sie schon so lange vermisst hat. Zuvor hat sie noch den Oberfeldwebel in seinem Zimmer aufgesucht und informiert. Der Mann war allerdings so verschlafen, dass sie sich nicht sicher ist, ob er das von ihr Gesagte überhaupt verstanden hat.
Rund 20 Minuten braucht ein durchschnittlicher Fußgänger vom Judenauffanglager
Weitere Kostenlose Bücher