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223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

Titel: 223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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Scharführer schnippt die Zigarette, die er sich eben angezündet hat, auf den benzingetränkten Leichenhaufen. Dann stapft er zum Wagen zurück.
    In der Nacht vom 2. auf den 3. Mai 1945 wird das ältere Ehepaar Karl und Marie Brandstetter in ihrem einschichtig gelegenen Haus in Hofamt Priel Nr. 147 unsanft aus dem Schlaf gerissen. Es sind laute Motorengeräusche, die sie geweckt haben. 2 PS-starke Autos scheinen direkt vor ihrer Haustür mit laufenden Motoren zum Stehen gekommen zu sein. Es ist Mitternacht, und um diese Zeit verheißen derartige Geräusche in einer solch abgelegenen Gegend nichts Gutes. Flüsternd befiehlt Karl Brandstetter seiner Gattin, im Ehebett liegen zu bleiben, während er selbst bereits mit den Zehen des rechten Fußes am Boden nach den Hausschlapfen tastet. Ohne Licht zu machen, schleicht er dann innerlich fluchend zur Haustür, um durch ein Guckloch nach draußen zu spähen. Er reibt sich verschlafen die Augen und sieht 2 Luxuskarossen, die bei eingeschaltetem Licht nur ein paar Schritte vom Hauseingang entfernt stehen. Ihre Scheinwerfer strahlen in den tiefen Graben, der sich zirka 40 Schritte von seinem Haus befindet, strahlen dessen hohe und steile Böschung an, beleuchten eine größere Anzahl von Menschen, die gerade in diesen natürlichen Geländeeinschnitt hineingetrieben werden wie Vieh. »Fritz, dreh das Licht aus!«, vernimmt er eine laute, das Befehlen gewohnte Stimme und sieht, wie die Scheinwerfer eines Autos tatsächlich abgeblendet werden. Dann hört er eine krachende Salve und sieht, wie die Gestalten im Graben umgerissen werden wie von einer unvorstellbar mächtigen Gewalt. Er spürt Schweiß von seiner Oberlippe tropfen. Am liebsten würde er sich jetzt einfach umdrehen und schreiend in sein Schlafzimmer zurücklaufen und sich unter der Bettdecke verkriechen. Aber er muss, er muss alles sehen, denkt er, um später sagen zu können, dass er dies und jenes nicht gesehen habe, ja gar nicht sehen hätte können. Vor allem nicht die Person in dem größeren der beiden Wagen, die er kennt, wie ein Einheimischer einen anderen Einheimischen halt kennt. Er hört einzelne Schüsse und sieht Soldaten, ruhig und konzentriert wie beim Scheibenschießen. Wenn ich jetzt die Haustür öffne und einen Schritt nach draußen mache, denkt er, erschießen die mich auch. Es ist schon schlimm genug, hinter der eigenen Tür Zeuge zu sein, Zeuge für das Unbegreifliche. Mit zitternden Knien und schweißnassem Gesicht bleibt der 64-jährige Zimmermann auf seinem Posten hinter dem Guckloch, auf den ihn wohl, denkt er, nur der Teufel selbst gestellt haben kann. Wenn ich 30, 40 Jahre jünger wäre, überlegt er, hätte ich das alles vielleicht einfach verschlafen, aber in meinem Alter weckt einen schon eine summende Fliege auf, von einem anfahrenden Auto und Schüssen ganz zu schweigen. Zum Glück haben wenigstens diese furchtbaren Schreie aufgehört, denkt er, jedenfalls fast, als die Uniformierten die Leichen mit einer Flüssigkeit aus Kanistern überschütten. Bald kann er das Benzin sogar riechen. Er schmeckt Blut in seinem Mund, er hat sich wohl vor Aufregung in die Lippen gebissen. Wenn mein Herz das hier aushält, denkt er, werde ich sicher 100 Jahre alt. Er sieht die Soldaten in die beiden Wagen steigen, während die Erschossenen zu brennen beginnen. Die beiden Wagen fahren langsam ab. Durch das lodernde Feuer, das die toten Menschen verzehrt, ist es vor dem Haus Hofamt Priel Nr. 147 fast so hell wie zuvor.
    Karl Brandstetter riskiert noch einen letzten Blick und schlapft dann leise in sein Schlafzimmer zurück, in dem es zum Glück kein Fenster zu dem Graben vor dem Haus gibt. Als er im stockdunklen Zimmer steht, spürt er die Tränen, die seine Frau geweint hat, riecht er das süßlich-warme Salz in der Luft.
    »Hast du die Schreie auch gehört, Karl?«, fragt Marie Brandstetter.
    »Nein«, lügt ihr Mann.
    »Wer hat da so furchtbar geschrien?«, insistiert sie.
    »Du hast schlecht geträumt, Marie! Geh, schlaf wieder ein!«, versucht sie ihr Mann zu beruhigen.
    »Ich hab’ doch gar nicht mehr geschlafen, Karl, seit du aufgestanden bist!«, protestiert sie.
    »Ein Alptraum, Marie!«, antwortet er so fest und ruhig, wie er nur kann. Diesmal ist es keine Lüge.
    »Riechst du das auch?«, fragt Marie Brandstetter angstvoll. Ein widerlicher Geruch beginnt sich in dem kleinen Häuschen auszubreiten.
    »Das ist doch nur Rauch – irgend so ein Idiot hat die Böschung angezündet«, meint Karl

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