223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
nördlichen Donauufer hin abfällt, nicht kennt, woher auch. Hoffentlich wird Albert Klein, denkt er, den Anstieg irgendwie bewältigen. Einen erschöpften Nachzügler hätte jeder SS-ler schneller über den Haufen geschossen oder erschlagen, als der arme Klein seinen Namen buchstabieren könnte. Aber Stern wagt nicht, nach dem höchstwahrscheinlich gebrochenen, rechten Arm Kleins zu greifen, um ihm nicht wehzutun. Der Schmerzensschrei eines Juden, denkt er bitter, das ist für SS-ler und Gestapo-Leute, aber auch für nicht wenige Volkssturmmänner und nicht zuletzt für manche HJ-Buben etwas, das sie nur noch zu weiteren Grausamkeiten reizt. Da wird nicht lange gefackelt. Nur gut, denkt er, dass Pál Feldmesser noch immer den linken, unversehrten Arm Kleins um die eigenen Schultern gelegt hat und fast sein ganzes Körpergewicht zusätzlich zu seinem eigenen trägt. Möge der Allmächtige es ihm vergelten, denkt Stern, und er versucht sich an ein hebräisches Gebet zu erinnern. Stattdessen überfällt ihn der Gedanke an
Gefilte Fisch
, eigentlich ein Heißhunger danach, und er schämt sich ein wenig.
Die jeweils 4 SS-Männer links und rechts der 65 Zwangsarbeiter treiben zur Eile an, aber nicht mehr so aggressiv und brutal wie noch zuvor. Aus dem Nieseln ist ein leichter Regen geworden. Wenigstens, denkt Dezsö Stern, werden wir bei der Arbeit nicht verdursten.
Nichts, was an Ludwig Stadler verdächtig wäre, rein gar nichts. Noch dazu an einem Einheimischen, 1903 in Hofamt Priel geboren, Kraftfahrer bei der Herrschaft, bei der habsburgischen Forstverwaltung in Persenbeug, und deshalb UK gestellt und nicht einmal Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen. Der vierfache Familienvater ist an diesem 2. Mai 1945 um zirka 23 Uhr 30 auf dem Heimweg, ruhigen, schnellen Schrittes geht es vom Lanhof des Josef Böcksteiner sachte bergab, dem heimatlichen Zotterhof zu. Der leichte Regen ist zuerst zu einem Nieseln geworden und hat dann überhaupt nachgelassen. Dafür ist starker Wind von Westen her aufgekommen, der bald zum Sturm werden könnte. Alles in allem eine unangenehme Nacht, aber Ludwig Stadler kommt aus der warmen Stube des Böcksteiner, von einer Kartenrunde, einer abendlichen Schnapserpartie bei seinem mittelbaren Nachbarn. Und warum er die Runde der Piatnik-Jünger, an der auch der eine oder andere Volkssturmmann, die eine oder andere Wache vom jüdischen Auffanglager unten an der Donau teilnimmt, vorzeitig als Erster verlassen hat, weiß nur er. Hat er beim Karteln verloren? Hat er sich deswegen geärgert und ist gegangen? Oder ist er neugierig, weil der Böcksteiner und die Kartenpartie gewarnt worden sind vor einer nächtlichen SS-Übung in der Gegend, bei der scharf geschossen werden würde? Wie auch immer, auf jeden Fall stapft der Stadler jetzt genau in das Gebiet der angeblichen Übung hinein und denkt dabei noch beiläufig, was die den Krieg noch groß üben müssen, immerhin dauert der schon Jahre, da müsste man das Umbringen doch längst gelernt haben. In solche Gedanken versunken kommt ihm plötzlich ein Personenwagen entgegen, eine stattliche Limousine, die sehr langsam fährt, ja eigentlich dahinschleicht. Wenn ich in dieser windigfeuchten Nacht einen solchen Wagen hätte, denkt Ludwig Stadler, ich wäre wohl ein wenig schneller damit unterwegs und schneller daheim im Warmen. Jetzt erst bemerkt er im Scheinwerferlicht eines weiteren Wagens die hinter dem ersten Auto marschierende Gruppe, 50, 60 zerlumpte Gestalten mit Bündeln auf den Buckeln und 8 oder 9 Soldaten mit umgehängten Zeltbahnen. Dahinter eben noch ein PKW, ein schöner Horch, mit aufgeblendeten Scheinwerfern, welche die Gehenden von hinten anstrahlen und die nicht sehr breite Straße leidlich ausleuchten. Seltsame Übung, denkt Stadler, das sind wohl nicht unsere Kriegsgefangenen vom Forstbetrieb, das müssen die Juden aus den Baracken der Rhein-Main-Donau AG sein. Seltsame Übung, denkt er noch einmal und wird auch schon von einem der Soldaten, von dem sich nicht sagen lässt, ob er der Wehrmacht oder der Waffen-SS oder wem auch immer angehört, barsch angerufen: »Wohin gehen Sie denn um diese Zeit?«
»Ich gehe nach Hause«, antwortet Ludwig Stadler ruhig.
»Drahn S’ Ihna!«, befiehlt der Soldat im tiefsten, ostösterreichischen Dialekt und klopft mit der flachen Hand auf seine Maschinenpistole. Das ist eine an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassende Aufforderung. Ludwig Stadler kommt ihr kommentarlos nach und
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