223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
Schrotflinte auf Hüfthöhe in Anschlag. Was er zu sehen bekommt, lässt aber alle seine Gedanken als völlig absurd erscheinen. Ein paar Uniformierte schießen mit Karabinern und Pistolen auf 50, 60 Menschen, die schreiend und stöhnend im Graben neben dem Brandstetterschen Haus liegen, während weitere Uniformierte mit Maschinenpistolen gerade zu 2 Autos zurückschlendern, die fast direkt vor der Haustür des Nachbarn stehen und deren Scheinwerfer die ganze Szenerie beleuchten.
Mein Gott, denkt Johann Neulinger verstört, bin ich froh, dass ich mich noch nicht durch einen Zuruf bemerkbar gemacht habe. Vorsichtig tritt er im Rückwärtsgang Schritt für Schritt vom nachbarlichen Gartenzaun zurück, zurück in die Finsternis, weg von den beiden schwarz lackierten Karossen, weg von den Schützen des Rollkommandos.
»Die Juden sind es! Die legen gerade die Persenbeuger Juden um!«, durchzuckt es sein Gehirn.
»Fritzl, blend’s Licht obi!«, hört er rufen und bekommt noch mit, wie die Uniformierten eine Flüssigkeit aus 2 Kanistern über die Erschossenen schütten. Dann verschwindet Johann Neulinger endgültig in der Dunkelheit, der helle Feuerschein der brennenden, der verbrennenden Juden kann ihn nicht mehr erreichen.
Wegen ihrer Krankheit, schweren Herzrhythmusstörungen, ist sich Nelli Klein sicher, den strapaziösen Marsch von Wien nach Linz oder weiß Gott wohin nicht zu überleben. Statt auf das eigene Überleben setzt sie auf das Überleben ihrer Kinder, der 18-jährigen Sara, die Kosmetikerin gelernt hat, der 13-jährigen Anna und des 6-jährigen Imre, und teilt das bisschen Verpflegung, das ihrer Familie, ihnen allen geblieben ist, in den ersten Marschtagen so auf, dass sie und ihr Mann Albert, der mit 51 Jahren ein Jahr älter ist als sie, fast leer ausgehen bei jeder Mahlzeit, wenn man von so etwas wie einer Mahlzeit überhaupt noch sprechen kann. Nelli Klein würde zugunsten ihrer Kinder auch völlig auf Nahrung und Wasser verzichten, aber ein solches Opfer würde vor allem Sara nicht annehmen, nie und nimmer akzeptieren. Dafür ist ihr Gerechtigkeitssinn zu groß. Also teilt die Mutter das Wenige, das allzu Wenige so, dass zwar der Löwenanteil auf Sara, Anna und Imre fällt, aber für sie und Albert wenigstens noch ein paar Bröckchen bleiben. Sie macht darum gehörig Aufhebens, verzehrt die Hungerration mit lautem Schmatzen und schauspielert erhebliche Sättigung, die ihre Kinder, vor allem Sara, von der gerechten Teilung der Rationen überzeugen soll. Dabei muss Nelli Klein zuschauen, wie ihr Mann, der in die Schauspielerei manchmal mit einfällt, von Marschtag zu Marschtag schwächer wird. Sein Anzug, den er hegt und pflegt, so gut es nur geht, umhüllt eigentlich nur mehr Haut und Knochen.
Hajduböszörmeny, denkt Nelli Klein erschöpft und verzagt, werden wir wohl nie mehr wiedersehen. Es gibt höchstwahrscheinlich auch gar kein jüdisches Hajduböszörmeny mehr, keine Gemeinde mehr, die einen hypergenauen, hyperkorrekten Buchhalter und Notar wie ihren Albert gebrauchen könnte.
3, 4 Kilometer vor Gottsdorf im Strudengau taumelt Albert Klein am 25. April 1945 aus der bewachten, eskortierten Marschkolonne, torkelt noch ein paar Schritte und stürzt dann in den Straßengraben, der zum Glück an dieser Stelle nicht sehr tief ist. Mühsam, unendlich mühsam kann er sich nach einiger Zeit gerade noch irgendwie aufrichten und in eine Art Sitzposition bringen. Nelli hat versucht, ihn zu halten, zu stützen, vergeblich, und steigt nun zu ihm in den Graben hinunter. Erschöpft und traurig setzt sie sich neben ihren Mann, um gemeinsam mit ihm auf den Tod zu warten. Auf einen raschen Tod in Form von 2, 3 Karabiner- oder Pistolen-Schüssen der wenigen Volkssturmmänner, welche die Kolonne von rund 130 ungarischjüdischen Zwangsarbeitern eskortieren, einen von zahlreichen Todesmärschen in das KZ Mauthausen. Das letzte, das finale Stück des gemeinsamen Lebensweges, denkt Nelli Klein, ist gekommen. Zu ihrem Entsetzen springen nun auch Sara, Anna und Imre zu ihren Eltern in den Graben. Wütend und mit letzter Kraft schreit sie ihre Kinder an, dass sie weitergehen sollen, aber Sara schüttelt nur langsam den Kopf und schmiegt sich an ihren Vater, der aus lauter Erschöpfung in eine Art Wachkoma gefallen zu sein scheint.
»Ihr seid doch viel zu jung, um mit uns zu sterben!«, schluchzt Nelli Klein verzweifelt, aber die Kinder bleiben stur im Straßengraben hocken.
Da sie sich im letzten Drittel der lang
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