223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
gezogenen Marschkolonne befunden haben, kommen nur noch ganz wenige Wachen an ihnen vorbei. Zu ihrer aller Verblüffung legt kein einziger seine Waffe auf sie an. Die Volkssturmmänner gehen mit ihren italienischen Beutekarabinern einfach weiter.
Als ihr Mann Albert an diesem 2. Mai 1945 um ungefähr halb 11 Uhr abends die Treppe heruntergestürzt wird und bewusstlos und blutend im Erdgeschoss der mittleren Baracke des Judenauffanglagers Persenbeug liegen bleibt, ahnt Nelli Klein, dass das Ende nun doch gekommen ist. Die paar Tage der Erholung im Lager, der Hoffnung seit dem 25. April, sind doch nur ein vorläufiger Aufschub, ein Urlaub vom Tode gewesen, denkt sie. Trotz ihrer schlechten körperlichen Verfassung, ihrer Herzschwäche und Unterernährung wäre sie am liebsten zu Albert hingesprungen, hätte versucht, ihn vom Boden aufzuheben, zu stützen, ja zu tragen, aber die SS-ler treiben nur die Männer aus der Baracke, und sie darf nicht mit, sosehr sie auch darum bittet und fleht.
Nach dem Abmarsch der Männer ruft sie Sara zu sich und befiehlt ihr mit schwacher Stimme, gemeinsam mit Anna und Imre schleunigst die Baracke und das Lager zu verlassen und sich irgendwo, möglichst weit weg und auf jeden Fall bis zum Morgen zu verstecken. Ihre älteste Tochter zögert zunächst ein wenig, antwortete dann aber mit fester, wenn auch tränenerstickter Stimme: »Wir sind eine Familie, Mama, wir bleiben zusammen!«
Nelli Klein spürt, wie sich eine unendlich starke, eiserne Klammer um ihre Brust legt und zusammendrückt. Ihr Blutdruck, das fühlt sie, fällt ins Bodenlose, um gleich darauf wieder emporzuschießen. Während sie noch rasend schnell Worte, treffende Worte überlegt, um ihre Tochter doch zur Räson zu bringen und zur Flucht zu bewegen, wird sie ohnmächtig.
Als sie nach dem Anfall wieder erwacht, ist Sara verschwunden und ein nach Waffenöl, Körperschweiß und Paprikawurst stinkender SS-Mann lässt den Kolben seiner Maschinenpistole ganz gezielt auf ihr rechtes Knie herunterkrachen.
»Auf, du alte Judensau!«, schreit der Mann wie besessen, und kalter Nachtschweiß tropft von seiner Stirn, von seinem wütend verzerrten Gesicht auf sie nieder.
In die erste Welle des Schmerzes ruft sie nach ihren 3 Kindern, nach Sara, Anna und Imre. Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte schafft es Nelli Klein schließlich, sich aufzurichten, ja aufzustehen und langsam zur Tür der Baracke zu humpeln. Der SS-Mann lässt nicht ab von ihr, er schubst und stößt sie vor sich her, und wenn ihre Tochter Sara sie vor der Tür nicht aufgefangen hätte, wäre sie wohl auf die Schwelle niedergestürzt und totgeprügelt worden.
»Wo ist Imre?«, fragt Nelli Klein inmitten all der verstörten Frauen und Mädchen auf dem Barackenvorplatz und gestützt von ihren Töchtern Sara und Anna. »Wo ist unser Imre?«, wiederholt sie ihre Frage.
»In der Baracke, Mama. Wir durften ihn nicht mitnehmen! Die SS-Männer haben gesagt, dass er noch zu klein für die Arbeit in den Panzergräben ist«, antwortet Sara wie von einer Schuld bedrückt.
»Das bedeutet nichts Gutes«, meint Nelli verzweifelt.
Angetrieben von den bellenden Befehlen der SS-Männer setzen sich die 70, 80 Frauen und Mädchen langsam in Bewegung. Das der Kolonne voran fahrende schwarze Auto nimmt Nelli Klein nicht mehr richtig wahr, ebenso wenig wie den zweiten PKW, der die Nachhut bildet. In ihrem Kopf, in ihren Gedanken, in ihren Sinnen ist nur mehr ihr jüngster und einziger Sohn, Imre, das Nesthäkchen. Wenn ihre Töchter sie nicht stützen und vorwärts ziehen würden, wäre sie nicht fähig, auch nur einen einzigen Schritt zu tun. Das zertrümmerte Knie schmerzt wie unter einer Folter, die sich ein krankes Gehirn ausgedacht hat.
»Imre«, murmelt sie immerzu, »Imre.«
Auch den beißenden Benzingeruch nimmt Nelli Klein nicht mehr war, ebenso wenig wie die besorgten Fragen ihrer ältesten Tochter. Ihr Geist hat aufgegeben, hat sich zurückgezogen in eine ferne Vergangenheit, unerreichbar.
Als schließlich in einem Graben etwa 200 Meter östlich des Brandstetterschen Hauses 3 oder 4 Kugeln in ihren geschundenen Körper eindringen und sie durch die Wucht der Einschläge wie eine Spielzeugpuppe zurückschleudern, feiert sie den zweiten Geburtstag ihres Imre. Sie stirbt, als ihr Mann Albert gerade die Geburtstagstorte etwas ungeschickt anschneidet.
Mit ihren beiden Autos voll rumänischen Benzins sind die Mörder schnell und effektiv. Kaum dass sie die Leichen der
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