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223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

Titel: 223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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ramponierte Füße kaum geheilt sind und dessen Fußsohlen noch immer nur aus blutig verschorftem Fleisch ohne Haut bestehen, bleibt im Stock der östlichen Baracke liegen, selbst als seine Mutter Ilona und seine beiden älteren Schwestern Éva und Judit weggeführt werden. Er hat in den letzten Monaten schmerzlich lernen müssen, allein auf sich aufzupassen. Trotz all seiner kindlichen Aufregung und Verzweiflung kann er sich der Müdigkeit nicht erwehren und schläft irgendwann vor Mitternacht auf seiner schmalen Pritsche ein. Es ist ein angstvoller, dünner Schlaf, über den kein gütiger Gott wacht, sondern nur Ungeheuer.
    Tibor Yaakow Schwartz erwacht jäh mit einem leisen, klagenden Laut, als er mit einem Mal spürt, dass ihm die dünne Decke mit einem Ruck weggezogen wird. Vor ihm steht ein schwer bewaffneter Waffen-SS-Mann in dunkler Uniform und schreibt etwas auf ein Blatt Papier. Im blendenden Lichtstrahl einer großen Taschenlampe sieht er den schlaftrunkenen, mageren Jungen an wie ein Insekt, wie ein nicht besonders interessantes Exemplar. Die Decke des Buben ist am Boden vor den Füßen des SS-lers gelandet. Yaakow hat keinerlei Gefühl dafür, wie viel Zeit vergangen ist, seit er nach der Lagerräumung eingeschlafen ist. Als der SS-Mann sich kommentarlos wegdreht und geht, stellt er sich schlafend. Seine Decke lässt er instinktiv am Boden liegen. Er spürt, wie ein großer Brocken Angst seine Luftröhre hinauf kriecht, bis zum Kehlkopf, und ihm beinahe den Atem nimmt. Trotzdem zwingt er sich, alle Muskeln zu entspannen. Auch die Augen nur ja nicht öffnen, sagt er sich immer wieder im Kopf vor. Die Zeit will und will nicht vergehen. Es wäre ihm jetzt unmöglich, wirklich einzuschlafen. Wie eine leise, flüchtige Ahnung, an die man dann doch nicht glaubt, spürt er das Ungeheuerliche. Plötzlich hört der Junge Schüsse. Sie scheinen aus dem Erdgeschoss der Baracke zu kommen. Kein Zweifel, es sind Pistolenschüsse. In diesen Zeiten weiß auch ein 11-Jähriger, wie sich Schüsse anhören. Yaakow wühlt sich tief in das Stroh, auf dem er liegt, er wühlt sich bis zum Holzboden der Pritsche, des schmalen Bettkastens und wirft das ganze Stroh, alles Stroh, das er mit seinen Händen greifen kann, über seinen kleinen, mageren Körper. Dann bleibt er still in der dunklen Baracke liegen. Er hört die schweren Stiefeltritte von 3, 4 Männern, welche die schmale Treppe in den Stock hinaufsteigen. Angst, reine Todesangst lähmt ihn, kein einziger der Strohhalme über seinem Körper bewegt sich auch nur ein Jota. Dann fallen auch in diesem Obergeschoss Schüsse, ein knappes Dutzend etwa, während Tibor Yaakow Schwartz verzweifelt versucht, seinen kindlichen Atem anzuhalten.
    Es sind fast 2 Stunden gewesen, in denen sich Tibor Yaakow Schwartz unter dem Stroh nicht bewegt, keinen einzigen Mucks getan hat. Seiner Erinnerung nach sind es die längsten Stunden seines bisherigen Lebens gewesen, und in der Baracke ist es noch immer nicht ruhig. Der 11-Jährige hört verschiedene Geräusche durch das Stroh. Es ist nicht nur der Rhythmus seinen eigenen Blutes, der in seinen Ohren klopft …
    Es ist schließlich ein schrecklicher Moment, als dem Buben klar wird, dass all die Geräusche nicht mehr von den SS-Männern herrühren können, die SS ist längst über alle Berge. Diese seltsamen Geräusche können nur von den noch nicht Gestorbenen kommen, von den Sterbenden, den tödlich Verwundeten. Ab diesem Moment ist Tibor Yaakow Schwartz kein Kind mehr. 2 Stunden und vielleicht noch eine Viertelstunde dazu, bis dann schlussendlich alles ruhig ist. Totenstille. Er traut seinen Ohren, die nichts mehr registrieren, und wühlt sich vorsichtig aus dem Stroh. Etwas Licht zwängt sich durch ein paar undichte Stellen im Dach, durch die auch ein wenig Regenwasser in das Obergeschoss der östlichen Baracke tröpfelt. Yaakow sieht sich in dem feuchten Halbdunkel um. Zuerst erblickt er die Leiche der Greisin in der Pritsche links neben sich, direkt neben sich. Man hat ihr ins Gesicht und in die Brust geschossen. Überall Blut. Der winzige, ausgemergelte Körper ist schrecklich verkrampft. Der Junge, der kein Kind mehr ist, springt erschrocken von seiner Bettstatt auf. Er hebt die Decke auf, die ihm der SS-Mann weggezogen hat, und wickelt sie sich um seine schmalen Schultern. 3 tote Kinder entdeckt er noch in seinem Geschoss. Auch im Erdgeschoss nur Tote, der Junge ist zu verstört, um sie zu zählen. Er läuft mit der Decke um die

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