223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
Schultern aus der Baracke in einen kalten, regenfeuchten Kriegsmorgen. Trotz seiner schmerzenden Füße marschiert er zur mittleren Baracke, die er bangen Herzens betritt. Auch die dritte Baracke durchsucht er zu dieser frühen Stunde. Überall das gleiche Bild. Leichenstille, ermordete Greise, ermordete Kinder. Tibor Yaakow Schwartz ist eigentlich zu jung, viel zu jung, um ernsthaft an Selbstmord zu denken, aber einen unendlich langen Moment überlegt er mit großer Entschlossenheit, in die grauschwarze Donau zu laufen und in den kalten, schnellen Wassern unterzugehen. Die Decke würde er sich dabei über den Kopf ziehen.
Plötzlich spürt er einen kaum erträglichen Schmerz in seinem linken Fuß, unter der nicht mehr vorhandenen Fußsohle. Die Muskulatur des linken Beines versagt, er fällt nieder und beginnt zu weinen. Bilder seiner Mutter und seiner beiden Schwestern stehen ihm mit einem Mal überdeutlich vor Augen. Er muss sie suchen! Die SS-Leute haben gesagt, dass sie zu einem Arbeitseinsatz abgeholt würden, denkt er, und er hat wieder Hoffnung, Hoffnung, sie zu finden. Die Donau kann einstweilen noch warten.
»Haben Sie nicht Juden zur Arbeit gehen gesehen? Haben Sie nicht Juden gesehen?«, fragt Tibor Yaakow Schwartz in seinem bemühtesten Deutsch Passanten und Vorübergehende an der Straße nördlich des Lagers – und erntet nur Kopfschütteln und das eine oder andere achtlos dahingesprochene Nein.
Der Junge, notdürftig eingehüllt in die dünne Decke, humpelt auf seinen schmerzenden Füßen langsam die schmale Schotterstraße entlang. Der Morgen dämmert. Ein leichter Nieselregen hat eingesetzt. Die ganze Gegend sieht kalt und tot aus, genauso wie das Lager. Aber es sind schon vereinzelt Menschen unterwegs, wenn auch in den Akten und Protokollen nirgendwo verzeichnet ist, wer an diesem 3. Mai 1945 schon so früh am Judenauffanglager vorbeigegangen ist. War eine der Passanten die Baierböckin, unterwegs zu ihren Arbeitgebern in Persenbeug, als Haushälterin verantwortlich für das Frühstück, für das Kaffeebrauen und das Aufbacken der Semmeln und das Schlagen der Butter, bevor noch die Herrschaften erwacht sind? Es könnte aber auch der Bruckner Sepp gewesen sein, mit seinem kleinen, schwarzen Hund und seinem Weidenkorb, in dem er sein gesamtes Hab und Gut mit sich herumträgt, ein gewesener Mesner aus Maria Taferl, den es irgendwann nach dem Ersten Weltkrieg nach Hofamt Priel verschlagen hat. Der Sepp ist nicht mehr und nicht weniger als die lebende Lokalzeitung im Ort, weil er viel herumkommt, als Bettler und Mundharmonikaspieler den ganzen Tag von Haus zu Haus zieht, bevor er sich abends wieder in seinen Unterschlupf zurückzieht. Liegt dieser nicht in Hinterhaus, dem Ortsteil am Donauufer, in dem auch die Juden untergebracht sind? Andererseits scheut der Bruckner Sepp, was man an ihm auch sofort riecht, das Wasser ungefähr so wie ein Vampir den Knoblauch oder das Kruzifix, und es ist daher sehr zweifelhaft, ob er an einem regnerisch-feuchten Tag wie diesem seinen Unterstand schon so früh verlassen hätte. Was nicht in den Protokollen und Aufzeichnungen steht, ist vergessen, nicht mehr rekonstruierbar, denn viel reden die Leute hier nicht.
Und der zaundürre Junge mit der Decke über den Schultern, mit dem fremden Akzent in seinem fremden Deutsch, ist auch schon weitergehumpelt, ja mit einem Mal verschwunden, auch aus dem Gedächtnis der Leute, die er eben noch befragt hat. Blöder Bub, haben die sich höchstens gedacht, was fragt der mich aus nach irgendwelchen Juden – und das in Zeiten wie diesen, wo man sowieso höllisch aufpassen muss, nur ja in nichts hineinzugeraten. Aber er wird wieder auftauchen, der Bub, ein paar Mal sogar, in Hofamt Priel, aber auch, 67 Jahre später, hier in diesem Roman.
Es ist wie gesagt noch sehr früh, ein kalter, trüber Kriegsmorgen. In der Nacht hat es geschüttet, Regenwasser hängt noch in den Wiesen, in den Rainen und im Wald, die Schindeldächer sind dunkel vom Niederschlag, und die Steindächer glänzen stumpf wie altes Blei. Vom Donaustrom steigen graue, schlierige Wassernebel auf, und die Gerichtsakten, die Protokolle und die Überlieferungen schweigen sich darüber aus, wer an diesem 3. Mai 1945 sehr, sehr früh an der Haustür des Postenkommandanten Gendarmeriemeister Engelbert Duchkowitsch im Feldmüller-Haus in Persenbeug Nr. 19 geklopft und geläutet hat. Nirgendwo steht, wer den Revierinspektor Franz Winkler im Gasthof
Zum Goldenen
Weitere Kostenlose Bücher