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223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

Titel: 223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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mehr, weiß der Revierinspektor, und die Getroffenen erleiden augenblicklich eine Art Schocktod, einen halbwegs gnädigen Tod. Dagegen bei einer Mündungsgeschwindigkeit von weit unter 300 Metern und wenn man nicht gleich ins Herz, in die Aorta oder in die Halswirbelsäule getroffen wird … Zum Glück hat sich der Landler wieder halbwegs im Griff, konstatiert Revierinspektor Winkler, und der Soukop sammelt brav Patronenhülsen vom Fußboden und von den Betten auf.
    Wieso hat uns denn keiner verständigt in der Nacht, als das Schlachten begonnen hat?, denkt der stellvertretende Postenkommandant bitter. Das Zernieren des Lagers, das Wegtreiben der Gehfähigen, die ganze Knallerei, die Schreie, das muss doch irgendeiner mitbekommen haben. Kein Wunder, die nächste Behausung von hier ist das SS-Umsiedlerlager, beantwortet sich der Revierinspektor seine Frage in Gedanken selbst. Bevor diese Volksdeutschen mit uns reden, küssen sie lieber dem Teufel den Arsch. Weiter wagt er einstweilen nicht zu denken, man soll sich eine Tatbestandsaufnahme nicht durch Voreingenommenheit von vornherein ruinieren. Schnell trägt er die Anzahl der Ermordeten in sein Notizbuch ein und verlässt beinahe im Laufschritt die Baracke.
    Die werden wohl keine Zeugen für mich übrig gelassen haben, die Sauhunde, die haben ihr Handwerk schließlich von der Pike auf gelernt. Schließlich hatten sie bis jetzt fünfeinhalb Jahre lang Übung im Krieg, Übung im Töten, überlegt Revierinspektor Winkler auf dem kurzen Wegstück zur dritten, westlichen Baracke und rekapituliert kurz das gute Dutzend von blutrünstigen Geschichten, besonders von der Ostfront, die ihm der eine oder andere Front-urlauber beim Wein im Gasthaus erzählt hat. Übel könnte einem davon werden wie dem armen Landler. Der hat es noch vor Tagen sogar einmal geschafft, in Ybbs 3 Kannen frisch gekochten Kaffee zu organisieren und ins Lager nach Hofamt Priel zu schaffen, über die Rollfähre hat er den dampfenden Kaffee eigenhändig zu den Juden gebracht, die sich natürlich nicht genug wundern konnten – ebenso wie Landlers Kollegen. Aber er, Winkler, hat den Korporal bestärkt. Schließlich können ein paar Kannen Kaffee so etwas wie ein Alibi sein, ein ganzer Haufen Gutpunkte. Und nun das!
    Aber das ist doch hier gar keine Front! Die Front verläuft doch östlich von Melk und im Waldviertel und vor Berlin und weiß Gott wo. Das hier ist doch keine Frontgeschichte, das hier ist ein kaltblütiger, niederträchtiger Massenmord aus politischem Hass, aus Rassenhass, oder eines höheren Auftrages wegen. Der Ermittler ist seinen Männern weit voraus und stößt schon die Tür zur dritten Baracke auf. Er ist sich sicher, dass er in dieser Sache keinerlei Unterstützung haben wird, von niemandem, von keinem hier im Ort und von niemandem darüber hinaus, nicht im Gendarmeriekreis, nicht im Landkreis, nicht im Gau, ganz im Gegenteil. Gegen seinen Willen eigentlich fällt ihm ein Vers aus einem alten Kirchenlied ein:
Nunc videbitis turbam, quae circumdabit me
– Nun werdet ihr die Schar sehen, die mich umzingelt. Vielleicht, denkt er, interessiert sich nicht einmal der liebe Gott für die Geschichte, obwohl man ja nie wissen kann. Revierinspektor Winkler ist eigentlich so religiös wie ein Ziegelstein, aber manchmal rechnet er noch immer mit Gott, vielleicht ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein.
    Mit einem Mal weiß er, dass er das kleine, blonde Mädchen in den blutbesudelten Fetzen und Lumpen nie wieder wird vergessen können. Egal, wie alt er werden sollte. Vielleicht, denkt er, kann ich eines Tages meiner Frau davon erzählen und so den Anblick wieder loswerden. Na ja, falls ich das hier überhaupt überlebe ...
    Bevor er allein die letzte Baracke betritt, nimmt er den Karabiner von der Schulter, lädt ihn durch und entsichert die Waffe.
    Wieder, zum dritten Mal, zählt Revierinspektor Franz Winkler verdrossen die Leichen. Zum Glück sind diesmal keine ganz kleinen Kinder, keine halben Babys dabei. 6 uralte Frauen, die, wie von einer Riesenfaust geschüttelt und geschlagen, verdreht in ihren Bettstellen liegen, keine hat es mehr geschafft, aus der Liegestatt zu kommen. Es riecht nach Blut, saurem Urin, Armseligkeit und der letzten, der allerletzten Verzweiflung. Ohne ihn eigens zu fragen, hatten ihn seine Eltern einst zur Gendarmerie gegeben. Er war das siebente von 14 Kindern. Seine Leute saßen in der Pfarrkirche immer in der letzten Reihe, weil sie Kleinhäusler waren. Kleine,

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