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223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

Titel: 223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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ersten Baracke des Judenauffanglagers 9 Leichen. Erschossen auf den Bettstellen liegend, im blutigen Stroh. 6 Kinder und 3 alte Frauen, Greisinnen. Fast alle mit schmerzverzerrten Gesichtern, mit offenen, vom Stöhnen und Schreien zerfurchten Mündern und verdrehten Gliedmaßen. Von im Licht von Taschenlampen hastig abgegebenen, einzelnen Pistolenschüssen stirbt man nicht so leicht. Die ärmliche Kleidung, die Lumpen und Fetzen, welche die Erschossenen am Leib tragen, ist blutgetränkt. Ein vielleicht 8-jähriger Bub hat sich, nachdem er den tödlichen Schuss empfangen hatte, noch aus dem Bettkasten gerollt und ist aus seiner Liegestatt auf den Fußboden gefallen. Nun liegt er bäuchlings auf den abgetretenen, schmutzigen Brettern, und die Gendarmen sind peinlichst bemüht, nur ja nicht in die Lacke halb flüssigen, halb eingetrockneten Blutes um ihn herum zu steigen, als könnte ein versehentlicher Tritt in das ausgeronnene Leben des Jungen diesen noch einmal irgendwie verletzen. Unter seiner rechten Stiefelspitze spürt Revierinspektor Winkler etwas Metallenes. Ein verstreuter Nagel? Es ist aber eine Patronenhülse, die er hastig aufhebt. Pistolenmunition, wie er konstatiert, wahrscheinlich von einer Walther P38.
    Er winkt Korporal Soukop zu sich heran.
    »Sie sind mir dafür verantwortlich, Soukop, dass hier alle Patronenhülsen aufgelesen und zum Posten mitgenommen werden.«
    Sein Untergebener zeigt keinerlei Reaktion, bleibt wortlos vor ihm stehen.
    »Verstanden, Soukop?«, versetzt Revierinspektor Winkler. »Oder brauchen Sie eine Extraeinladung?«
    Der Korporal antwortet nicht, bestätigt den Befehl noch immer nicht, sondern verkrümmt bloß seinen leptosomen Körper zu etwas, das aussieht wie ein Fragezeichen, alles in allem ein ungeheuerliches Verhalten bei einer Befehlsausgabe.
    »Ist Ihnen leicht nicht klar, was wir hier machen, Korporal Soukop, und warum Sie daher mit den Kameraden alle, möglichst alle Hülsen aufklauben sollen?«
    Revierinspektor Winkler ist ein wenig laut geworden, und plötzlich ist die Aufmerksamkeit aller auf ihn und den unvermutet renitent gewordenen Korporal gerichtet.
    »Ehrlich gesagt nein, Herr Revierinspektor«, antwortet der leise, sehr leise, sodass ihn eigentlich nur sein Vorgesetzter, der kaum einen Meter von ihm entfernt steht, hören kann.
    »Wir machen hier bloß eine Tatbestandsaufnahme«, sagt Revierinspektor Winkler wieder ruhiger.
    »Eine Tatbestandsaufnahme gegen die SS?«, fragt der Korporal noch leiser. »Bloß eine Ermittlung gegen die SS?«
    Revierinspektor Winkler wechselt Stand- und Spielbein und wendet sich ein wenig von Soukop ab und den anderen Männern zu.
    »Wenn jemand bei dieser Tatbestandsaufnahme partout nicht mitmachen will, dann kann ich ihm ganz schnell dazu verhelfen, im allerletzten Moment noch ein bisschen Frontluft zu schnuppern. Ein Anruf beim Gendarmeriekreis Melk genügt. Unsere heldenhafte Wehrmacht kann östlich von Melk jede, aber auch wirklich jede Verstärkung gegen die jüdisch-bolschewistischen Feindkräfte gebrauchen«, sagt er, im Ton konziliant und ruhig, ja geradezu sachlich.
    Seine Männer räuspern sich erst einmal vernehmlich und verteilen sich dann rasch in der Baracke, die Augen angestrengt auf den Boden gerichtet. Korporal Soukop bückt sich hastig und hebt eine Patronenhülse auf. Er holt sein Sacktuch aus der Hosentasche und legt das Asservat sorgfältig hinein. Revierinspektor Winkler zückt zufrieden einen kleinen Notizblock und schreibt mit einem Bleistift Folgendes hinein: »3. 5. 45 B1 9†«
    Eigentlich sind wir gar keine richtigen Gendarmen, die richtige Gendarmenarbeit verrichten, denkt Revierinspektor Franz Winkler bitter, sondern nur mehr eine Art Leichenbergungsverein. Auch in der mittleren Baracke, im Erdgeschoss wie im Stock, riecht es nach Tod. Die Gendarmen finden 11 Leichen vor. Wieder sind mehr Kinder darunter als Erwachsene. Letztere steinalte Menschen, zumeist Frauen, zaundürre, kleinwinzige, greisenhafte Weiberl, die wohl nicht mehr gehfähig gewesen und deshalb in ihren Bettstellen, neben oder auf ihren Strohsäcken erschossen worden sind. Wieder dürften – nach den schrecklich verzerrten Gesichtern zu schließen – die meisten der Opfer nicht gerade leicht gestorben sein. Im sechsten Kriegsjahr ist mittlerweile auch die Pistolenmunition minderwertig, an der Treibladung, am Pulver wird gespart, die Geschosse haben längst keine allzu hohe Austrittsgeschwindigkeit mehr. 300 Meter pro Sekunde oder

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