223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
Gedanken diesen ganzen verdammten Tag, der doch gerade erst begonnen hat.
»Was ist mit den Lagerinsassen passiert?«, fragt Dr. Weisz, obwohl es ihm der Gendarm eigentlich bereits erklärt hat.
Winkler konsultiert sein Notizbuch und antwortet dann tonlos: »Wir haben bisher 26 Leichen im Lager gefunden, und zwar auf den Pritschen.«
»Was ist mit all den anderen?«
Der Revierinspektor antwortet nicht. Mit einer angedeuteten Verbeugung dreht er sich am Stand um und verlässt mit kurzen, schnellen Schritten das Häuschen. Vor der Tür wischt er sich mit der flachen Hand Schweiß von der Stirn.
Erst jetzt, nach dieser Verbeugung, ist sich Dr. Weisz halbwegs sicher, nicht erschossen zu werden, jedenfalls im Moment noch nicht. Er bleibt wie erschlagen auf seiner Pritsche sitzen. Für den Transport auf den Posten gibt es nichts zu packen. Dr. Weisz trägt seine gesamte Kleidung am Körper und einen Suppenlöffel in einer Hosentasche. Darüber hinaus besitzen er und die beiden Frauen nicht einmal ein Leintuch. Die medizinischen Geräte, mit denen er in den letzten Tagen über 200 Menschen ärztlich versorgt hat, sind nichts als seine beiden Hände.
Regina Varga, eine 53-jährige Hausfrau aus Szolnok, ist mit der dritten Gruppe in einen Graben etwa 350 Meter östlich vom Haus Brandstetter geführt worden. Sie wird von Schüssen in eine Hand, eine Schulter und in den Kopf getroffen und sinkt auf den Haufen Toter und Sterbender. Als die SS-ler die vor Schmerzen schreienden und wimmernden Verwundeten mit Pistolenschüssen aus nächster Nähe exekutieren, stellt sie sich tot. Sie bekommt noch mit, wie der große Haufen toter Körper von 4 SS-Männern mit Benzin übergossen und schließlich angezündet wird. Eine wahrscheinlich durch den Blutverlust verursachte Ohnmacht erspart ihr weitere Qualen.
Aber Gott hat offenbar gewollt, dass Regina Varga überlebt. Kaum dass die SS-ler den benzingetränkten Leichenhaufen angezündet haben, unter dem die angeschossene Frau noch atmet, wenn auch unregelmäßig und schwach, verstärkt sich das leichte Nieseln zu einem Schauer.
Mit dem Geruch von eigenem und fremdem Blut, von Benzin und Todesschweiß in der Nase wacht Regina Varga am 3. Mai 1945 um zirka 6 Uhr früh aus ihrer tiefen Ohnmacht auf. Sie ist völlig durchnässt vom Regen und vom Blut und friert erbärmlich. Sie hört den eigenen Herzschlag in ihren Ohren pochen, aber sonst nichts, keinen Laut. Sie ist völlig verblüfft, dass sie noch am Leben ist, und beginnt sich langsam, unendlich mühsam aus dem Gewirr toter Körper neben, unter und über sich herauszuwinden. Mangels Alternative beschließt sie, sich ins Lager zurückzuschleppen.
Alle, alle sind tot, denkt sie, warum nicht auch ich? Warum bloß?
Niemand gibt ihr Antwort.
In all den Akten und Protokollen ist nirgendwo verzeichnet, wie der Anblick der halbtoten Regina Varga auf Revierinspektor Franz Winkler gewirkt haben mag. Mit schorfigem Kopf und vom Blut verklebten Haaren, in ihren blutigen, von Kugeln zerfetzten Kleidern hockt sie völlig erschöpft auf dem Appellplatz vor den 3 Baracken des Judenauffanglagers. In diesem Moment ist Winkler bewusst, dass er höchstwahrscheinlich der einzige Reichsbeamte ist, der eine förmliche Ermittlung gegen SS-Männer wegen Judenmordes aufzunehmen gewillt ist, gegen unbekannte Täter in schwarzen oder feldgrauen Uniformen. Es wundert ihn nur, dass ihn vor dieser absurden, völlig unmöglichen Aufgabe nicht mehr graut. Unwillkürlich greift der Revierinspektor in seine linke Hosentasche, zieht ein frisches Sacktuch hervor, beugt sich zu ihr hinunter und reicht es der schwer verwundeten Frau. Es ist dies, ohne dass ihm das bewusst wäre, die Geste der heiligen Veronika. Regina Varga presst das Taschentuch gegen ihren noch immer leicht blutenden Kopf. Ohne dazu aufgefordert worden zu sein, beginnt sie stockend zu erzählen. Sie spricht sehr leise und mit schwerem ungarischem Akzent, so dass sich Winkler noch tiefer zu ihr hinunterbeugt, um sie einigermaßen zu verstehen. Von seinen Männern, welche die beiden schwer geschockten Überlebenden aus dem Krankenrevier zum Posten tragen und dann schnell wieder hierher zurückkommen sollten, ist noch nichts zu sehen.
Regina Varga erzählt von den 4 SS-Männern, die gestern Abend in ihre Baracke gekommen seien und alle Männer aufgefordert hätten herauszukommen. Sie erzählt, wie die SS-ler nach einiger Zeit noch einmal in der Baracke erschienen seien und auch die Frauen und die
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