223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
überlegt einen Augenblick, wie schnell der ziehen könnte. Aber die Verhaftung eines solchen Mannes müsste wohl viel besser vorbereitet werden, denkt er, im Moment könne er sich ja nicht einmal sicher sein, wie seine beiden Männer reagieren würden. Er könne ja nicht gut eine Ermittlung führen, einen ganzen Haufen Überlebende und Zeugen beschützen und auch noch diesen SS-ler persönlich überwältigen, mit dem hier weiß Gott viele sympathisieren und gemeinsame Sache machen.
»Sie kommen auch noch in meine Gasse«, zischt Winkler fast unhörbar zwischen den Zähnen hervor.
Fricke grinst selbstbewusst. »Dass Sie sich über ein paar kaputte Juden so aufregen!« Dann fügt er auf den noch immer schwelenden Leichenhaufen deutend hinzu: »Davon geht die Welt nicht unter!«
»Ein paar?«, entfährt es dem Haupttrafikanten Josef Haider, der bisher eisern geschwiegen hat, entsetzt.
»Also, wenn wir auf Wunsch der hiesigen Gendarmerie auch noch anfangen sollen, Löcher zu buddeln, dann verziehen wir uns lieber! Was, Waldhauer!«, erklärt Fricke munter und klopft seinem Adlatus vertraut auf die Schulter. Der reagiert allerdings eher abwehrend.
»Die Tatbestandsaufnahme ist noch nicht zu Ende, meine Herren! Wir müssen noch zum Lager!«, sagt der Revierinspektor laut und deutlich.
»Was gibt’s dort schon zu sehen außer tote Judenbälger?«, setzt Fricke noch einen drauf.
Woher der das wohl weiß, denkt Winkler. Die kleine Gruppe setzt sich in Richtung Donau in Bewegung.
Irgendwo in den sanft zu den ersten Erhebungen des Waldviertels ansteigenden Fluren und Feldern nördlich des Lagers trifft der verstört herumirrende Junge mit der Decke um die schmalen Schultern an diesem 3. Mai 1945 um zirka halb 9 Uhr in der Früh 2 blutüberströmte Männer, die, einander stützend und immer wieder erschöpft stehen bleibend, Richtung Donau unterwegs sind. Es sind der 65-jährige Marton Rosenthal und sein namenloser, um Jahrzehnte jüngerer Lebensretter, der den schwer verletzten Älteren aus einem brennenden Leichenhaufen gezogen hat. Der alte Mann hat kurz geschorenes, dichtes weißes Haar und einen grauschwarzen Bart, der Moses zur Ehre gereicht hätte. Der Jüngere ist vielleicht 20 Jahre alt und an sich von kräftiger Statur, aber ausgezehrt und dünn wie eine Bohnenstange.
Tibor Yaakow Schwartz erkennt die beiden, es sind Insassen des Judenauffanglagers, und er ist unendlich dankbar dafür, dass ihn der Ältere auf Ungarisch anspricht.
Der Bub nennt zuerst höflich seinen Namen und fragt dann sofort nach seiner Mutter und seinen beiden Schwestern, aber der jüngere der beiden Männer schüttelt nur den Kopf. Er ist vielleicht noch verstörter als der 11-Jährige, denn in den nächsten Tagen wird er kein Wort sprechen, mit niemandem.
»Ich muss sie suchen! Ich muss dort hinauf, wo ihr hergekommen seid!«, sagt Tibor Yaakow auf Ungarisch.
»Das ist keine gute Idee, mein Junge, du willst doch deine Mutter und deine beiden Schwestern so in Erinnerung behalten, wie du sie zuletzt gesehen hast!«, antwortet Marton Rosenthal eindringlich und ebenfalls auf Ungarisch. Der Bub beginnt heftig zu weinen, beugt sich aber schließlich dem Ratschlag des Älteren, der sein Großvater oder Urgroßvater sein könnte.
»Miskolc«, sagt der jüngere Mann, der eine tiefe Wunde am Bein hat, plötzlich heftig bewegt.
»Miskolc?«, wiederholt Tibor Yaakow fragend.
»Entweder die Antwort auf alle Rätsel dieser Welt oder der Ort, wo er herkommt«, antwortet Marton Rosenthal und lächelt den Buben an. »Auf jeden Fall habe ich von ihm, seit er mich aus dem brennenden Leichenhaufen gezogen hat, noch nichts anderes gehört.«
Der alte Mann hat Schwierigkeiten, Luft aus seiner Lunge zu ziehen. Sein Brustkorb rasselt wie ein kaputter Wecker.
Wenn wir uns doch nur unsichtbar machen könnten, denkt Tibor Yaakow Schwartz bei sich, hinter jedem Baum, jedem Strauch, hinter jedem Haus, hinter jeder Scheune könnte einer der schwarzen Männer mit einer Waffe lauern, um an ihnen das zu vollenden, was sie in der Nacht begonnen hatten. Ohne ein Wort mehr folgt er den beiden Männern, die Richtung Lager humpeln und einander dabei engumschlungen stützen wie Liebende.
Wenn es mir ein wenig besser geht, denkt Marton Rosenthal, und die Wunde in seiner Brust schmerzt höllisch, werde ich dem Jungen alles erzählen. Ich muss.
Die Gassen und Straßen von Persenbeug sind fast menschenleer, als Klemens Markus an diesem 3. Mai 1945 um zirka halb 10 am
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