223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
größeren Kinder herausgeholt hätten. Sie seien nur gekommen, hätten sie gesagt, um die Namen aufzuschreiben und so einen Arbeitseinsatz vorzubereiten. Natürlich alles Lüge, denn auf dem Platz vor den Baracken war von den Männern des Lagers nichts mehr zu sehen. Von dort, erzählt Regina Varga leise weiter, sei sie mit den anderen Frauen und Kindern von 7, 8 SS-Männern in Regenbahnen weggeführt worden. Je ein Personenauto mit aufgeblendeten Scheinwerfern sei vor und hinter der Marschkolonne hergefahren. Es sei eine kalte, stürmische Nacht gewesen. Nach einiger Zeit seien sie alle in einen Graben geführt und dort mit Maschinenpistolen, Gewehren und Pistolen beschossen worden. Sie sei mit dem Leben davongekommen, weil sie sich tot gestellt habe. Als 4 SS-Männer den Leichenhaufen mit Benzin übergossen und angezündet hätten, sei sie ohnmächtig geworden. Ob der Herr Gendarm, fragt Regina Varga den Revierinspektor, ohne ihn anzusehen, sie jetzt auch erschießen werde.
»Nein«, antwortet Winkler. »Wir bringen Sie zum Posten und werden dort Ihre Schusswunden so gut wie möglich versorgen«, verspricht er und fügt noch hinzu: »Der Dr. Weisz ist auch dort, und wir haben einen Verbandskasten.«
Von Osten her sieht er bereits Korporal Soukop auf dem schmalen Saumweg am Donauufer unterhalb des schroffen Felsens, auf dem Schloss Persenbeug thront, heranradeln.
Als Revierinspektor Franz Winkler vor dem noch glosenden und schwelenden Leichenhaufen im Lanhofgraben steht, fällt es ihm schwer, die Fassung zu bewahren. Er spürt leichte Krämpfe in seinen Beinen und einen furchtbaren Druck in seinem Kopf, gegen seine Schläfen. Mit einem Mal ist ihm bewusst, dass die Verantwortung für diese Sache zu groß, viel zu groß für ihn ist. Formal mögen ja der Postenkommandant, der Landrat, vielleicht auch der Kreis- und der Gauleiter verantwortlich sein, aber tatsächlich lag das Judenauffanglager seit seiner befohlenen Einrichtung am 25. April völlig in seiner Hand. Er, nur er hatte entschieden – nachdem sich der Persenbeuger Volkssturm schon am 27. oder 28. April von allen Bewachungspflichten absentiert hatte –, dass eine nächtliche Bewachung des Lagers nicht notwendig sei; in bester Absicht, um seinen Gendarmen, aber auch den Insassen das Leben nicht noch schwerer zu machen, hatte er so entschieden. Und nun steht er in einem fürchterlichen Gestank von verbranntem Körperfett und Muskelfleisch, vor den Leichen seiner Schutzbefohlenen!
Es fällt ihm etwas leichter, so etwas wie Haltung zu bewahren, als 2 seiner Gendarmen um ihn sind, deren verwirrte, entsetzte Blicke beständig auf ihm ruhen. In Wirklichkeit würden die beiden älteren Ersatzgendarmen ihre Karabiner am liebsten in den Graben werfen und einfach davonlaufen. Nur die kerzengerade, uniformierte Gestalt Winklers, der zu wissen scheint, was er tut, und seine klaren, forschenden, grünen Augen halten die beiden noch davon ab.
Zuvor hatte Winkler die schwer verwundete Regina Varga von seinen hin und her hetzenden Leuten auf den Posten bringen lassen und war die Anhöhe in Richtung Lanhof, Zoterhof und Priel hinaufgestiegen. Kein Mensch hatte sich um diese frühe Tageszeit blicken lassen, aber Winkler hatte die 3 nur wenig voneinander entfernt liegenden Exekutionsorte ohne Schwierigkeiten gefunden – Benzingeruch und Rauchsäulen von brennendem Menschenfleisch, ein Gestank wie von verbrannten Schlachthofabfällen hatten ihm den Weg gewiesen. Er hatte die Schritte zwischen den 3 Tatorten gezählt und penibel in sein Notizbuch eingetragen. Die Zahl der Schritte multiplizierte er mit 0,7 und hatte damit eine ungefähre Entfernungsangabe in Metern.
Nun erteilt Revierinspektor Winkler seinen beiden verschreckten Leuten den Auftrag, Funktionäre der örtlichen NSDAP zur Tatbestandsaufnahme vorzuladen, und zwar hierher in den Lanhofgraben. Zu holen seien aus Persenbeug der Ortsgruppenleiter Viktor Urban, der Bürgermeister Josef Maier, der Kaufmann Friedrich Christl sowie der Fleischhauer Karl Leiß. Außerdem befiehlt Winkler seinen Gendarmen, auch noch 3 Unparteiische aus Persenbeug vorzuladen, und zwar den Gastwirt Raimund Buchinger, den Haupttrafikanten Josef Haider sowie den Elektriker Karl Rammler. Dem älteren der beiden Männer übergibt Winkler sein Dienstrad. »Der Rücktritt ist etwas lasch, da muss man schon Kraft dagegen setzen«, bemerkt er. Seine beiden Untergebenen sind jedenfalls heilfroh, den Exekutionsort verlassen zu können, und
Weitere Kostenlose Bücher