223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
dass mitten in der Nacht ein SS-Mann mit gezogener Pistole in ihr Zimmer, das Krankenrevier des Lagers, gerade mal 2 Pritschen, gekommen sei. Er habe die beiden Kranken, ihn und Frau Solt, gar nicht richtig angesehen, sondern nur gesagt: »Also hier liegen die Kranken.« Dann habe er 3 Schüsse in die Luft abgegeben und sich wieder entfernt, nicht ohne die Tür sorgfältig hinter sich zu schließen. Seit diesem Zeitpunkt bis jetzt seien sie tausend Tode gestorben, weil sie eine Rückkehr der SS gefürchtet hätten.
Damit verstummt der Mann aus Szarvas, der nicht nur an Gelbsucht leidet, sondern wegen eines Autounfalls auch nicht richtig gehen kann. Er schließt unendlich müde die Augen und sinkt auf seine Pritsche zurück. Seine Gedanken sind bei seiner Frau Judith und seinen beiden Söhnen István und Lajos, die mit ihm im Lager waren und für deren Überleben er nach den Erlebnissen der Nacht nur mehr sehr wenig Hoffnung hat. Genauso wäre es ein Wunder, wenn Samuel und Adel, der Mann und die Tochter seiner Leidensgenossin in diesem winzigen Krankenrevier, noch am Leben wären. Die 76-jährige Greisin neben ihm ist nach dem epileptischen Anfall in eine Art Dämmerzustand verfallen. Auch wenn man sie anspricht, reagiert sie nicht. Als der Revierinspektor ihr mit der Taschenlampe mitten ins Gesicht leuchtet, gibt es keinerlei Reaktion. Wie die Männer, denkt Winkler, die im Ersten Weltkrieg im Schützengraben durch Granatenbeschuss verschüttet worden sind. Aus diesem fernen Land im eigenen Kopf kommt man vielleicht nie wieder zurück.
»Haben Sie erkennen können, ob es Waffen-SS oder allgemeine SS war?«, fragt Winkler den Greis.
Keine Antwort.
Der Revierinspektor leuchtet mit seiner Taschenlampe die Dachsparren und die Dachziegel ab und findet tatsächlich Einschusslöcher, 3 an der Zahl.
»Haben Sie sonst etwas bemerkt?«, fragt er noch.
Keine Antwort. Ingenieur Kálmár liegt wie tot auf seiner Pritsche.
Seinen Männern, die sich inzwischen am Dachboden der dritten Baracke eingefunden haben und durch die offene Tür der Dachkammer bei der Zeugenvernehmung zuhören, befiehlt er, die beiden alten Leutchen zum Posten zu geleiten, ja zu tragen und sie dort im Hinterzimmer, auf den Nachtdienstpritschen unterzubringen.
»Kein Persenbeuger, keiner aus Hofamt Priel, keine Zivil- oder Amtsperson, absolut niemand hat vorläufig Zutritt zu den beiden Zeugen. Nicht einmal der Oberbürgermeister oder der Ortsgruppenleiter. Damit das klar ist! Wenn sich jemand gegen Ihren Willen Zutritt verschaffen will, drohen Sie in meinem Namen und im Namen des Gendarmeriekreises Waffengebrauch an!«
Ein Raunen geht durch das Häuflein seiner untergeordneten Gendarmen, die allermeisten davon sind Männer, die sozusagen das beste Alter schon hinter sich haben, mehr oder weniger lang, und gelernt haben, dass es besser ist, 5 Minuten lang feige zu sein als ein ganzes Leben lang tot. Bis auf einen einzigen, der im Ersten Weltkrieg an der Tiroler Front eingesetzt war, haben sie auch keinerlei Kampferfahrung und noch viel weniger Lust, welche zu machen. Statt auf Menschen haben sie bisher höchstens auf Hasen oder Rebhühner geschossen, weil die Jagd, aber auch die Wilderei in dieser Gegend hoch im Kurs steht.
Und wenn die SS vor der Tür des Postens steht?, denkt Korporal Soukop.
»Korporal Landler ist mir persönlich dafür verantwortlich, dass die beiden Zeugen am Posten gut versorgt werden. Tee und Brot sind zu organisieren.«
»Jawohl, Herr Revierinspektor«, schnarrt der Genannte und schlägt voller Freude die Hacken zusammen.
Manchmal muss man einen Mann wie Landler halt aus der Front herausnehmen, denkt der Revierinspektor, sonst bricht der noch zusammen, und davon hat schließlich niemand etwas.
»Korporal Landler bleibt am Posten als Bedeckung zurück, Langwaffe geladen und entsichert und stets in Griffweite. Der Rest findet sich schnellstens hier wieder ein, wenn der Transport der beiden Zeugen abgeschlossen ist«, gibt Revierinspektor Winkler seine abschließenden Befehle.
Auch dem Letzten seiner Leute ist nun klar, dass der stellvertretende Postenkommandant offenbar aufs Ganze geht. Wohin das alles noch führen kann, wagt sich keiner so recht vorzustellen.
Der ferne Gefechtslärm und das russische Geschützfeuer sind schwächer geworden, haben schließlich gänzlich aufgehört. Auch der fürchterlichste Krieg kennt gelegentlich Frühstückspausen, und viele Offiziere wollen sich waschen und rasieren, bevor sie die
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