223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
Führer, in Frage stellen? Er tat es lange Jahre nicht, nicht einmal in Gedanken, geschweige denn in Worten und Werken. Nur seine Frau wusste, dass er seine Loyalität spätestens Anfang 1945 innerlich aufgekündigt hatte und dass er plötzlich Österreich wieder herbeisehnte, ein Land, das es nicht einmal mehr dem Namen nach gab und das er 6 Jahre zuvor wie gesagt ohne besonderes Bedauern untergehen gesehen hatte. Großdeutschland, das tausendjährige Reich, hatte keine 100 Jahre mehr, kein Jahrzehnt mehr, ja nicht einmal ein Jahr mehr, hatte also keine Zukunft mehr, während er, Revierinspektor Franz Winkler, durchaus eine Zukunft zu haben wünschte, zusammen mit seiner Familie.
Da seine Männer offenbar noch immer mit dem Aufsammeln der Patronenhülsen in der mittleren Baracke beschäftigt sind, steigt Revierinspektor Winkler allein die enge Wendeltreppe in den Stock der Baracke hinauf, der nicht mehr als ein nicht allzu hoher Dachboden ist.
Verdammte Hendlleiter, flucht er in Gedanken. Es gibt keine Dachluken, die obersten Leitersprossen sind nur schwer zu erkennen. Er schaltet seine Taschenlampe ein und hofft inständig, keine weiteren Kinderleichen mehr zu finden.
Auf dem Fußboden des Dachbodens findet der Strahl seiner Taschenlampe nicht mehr als ein paar zerwühlte Strohhäuflein, 2 zurückgebliebene, armselige Kotzen, etwas Mäusekot und keine Menschenseele. Die winzige Kammer im äußersten nordwestlichen Winkel des Barackenobergeschosses, nicht mehr als ein besserer Taubenverschlag aus dünnen, alten Brettern, entdeckt er fast zufällig, als das Licht seiner Lampe einen Augenblick unkontrolliert herumstreift, während er damit beschäftigt ist, sich mit der anderen Hand den Karabiner wieder über die Schulter zu hängen. Es gibt eine niedrige Tür in dieses unvermutete Extrazimmer, er öffnet sie langsam, in der bangen Erwartung, wieder die eine oder andere Leiche mehr in sein Notizbuch eintragen zu müssen. Dann hört er keuchendes Atmen. Rasch zieht er das Türblatt, das nach außen aufgeht, zu sich und tritt in den Raum.
Im Licht eines kleinen Seitenfensters nach Norden, aus dem irgendwer fein säuberlich das Glas herausgeschnitten hat, sieht er einen zirka 80-jährigen oder noch älteren, erschreckend mageren Mann, der fast nackt und schwer nach Luft ringend auf seiner Bettstatt kauert, sich in die hinterste Ecke des Bettes zurückgezogen hat und ihn, Revierinspektor Franz Winkler, aus großen, gelben Augen völlig verschreckt und verstört anstarrt. Die Haut des alten Mannes ist wächsern, gelb, und er ist offenbar in Panik. Auf einer zweiten Bettstelle rechts neben ihm liegt eine vielleicht noch ältere, noch magerere Frau regungslos auf dem Rücken. Aber auch sie sieht den stellvertretenden Kommandanten des Gendarmeriepostens Persenbeug mit einer Angst und Verzweiflung an, als ob er der Teufel höchstpersönlich wäre.
»Keine Angst, Gendarmerie«, murmelt der Revierinspektor. »Ich bin Gendarm.« Als wäre das in Zeiten wie diesen für Juden eine große Beruhigung.
Plötzlich beginnt die Frau angestrengt zu keuchen. Ihre dünnen Arme und Beine vollführen zuerst runde, kreisende, dann irgendwie eckige und zuckende Bewegungen. Ihre Augen sind weit offen, starren zuerst nach oben, ins Leere oder in den Himmel, jedenfalls auf die Decke, dann verschwinden die Pupillen.
Revierinspektor Winkler ist heillos überfordert und verfällt in eine Art Beamtenstarre. Nach einigen Sekunden schafft er es immerhin, die Formel zu wiederholen: »Keine Angst, ich bin Gendarm.« Da hat der alte Mann längst einen Polsterüberzug zusammengerollt und ihn seiner Zimmergenossin vorsichtig zwischen Ober- und Unterkiefer geschoben.
Die Greisin krampft jetzt mit dem ganzen Körper und beißt auch kräftig zu, wenn sie auch nicht mehr allzu viele Zähne im Mund haben dürfte. Das also ist das Krankenrevier, und die haben sie nicht erschossen, denkt Revierinspektor Winkler verblüfft.
»Also hier liegen die Kranken.« Diesen Satz schreibt Revierinspektor Franz Winkler fein säuberlich unter Anführungszeichen in sein Notizbuch und malt daneben die Doppelrune der SS. Darunter schreibt er: »Ing. Eugen Kálmar und Regina Solt (Private) aus Debrecen.«
Mit langen Erschöpfungspausen zwischen den Sätzen, ja auch zwischen manchen Wörtern, aber im schönen, geradezu musikalisch schönen k.u.k.-Ungarndeutsch einer vergangenen, einer untergegangenen Welt hat ihm Ingenieur Kálmár, der alte Mann mit Gelbsucht, erzählt,
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