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223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

Titel: 223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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traben beziehungsweise radeln eilends davon.
    Ich kann nur hoffen, denkt der Revierinspektor, ich stehe es durch, mit all den Toten allein zu sein, wenigstens eine Zeitlang. Während er wartet, legt er den Karabiner ins Gras, schlüpft aus der penibel gebügelten Uniformjacke und versucht, mit Händen voller Erde, die er aus einer Wand des Grabens wühlt, die kleinen Feuer zu ersticken, die zum Teil noch brennenden Leichname zu löschen. Vergeblich.
    »Sämtliche Funktionäre der NSDAP haben die Teilnahme an der Tatbestandsaufnahme abgelehnt, Herr Revierinspektor«, rapportiert der ältere der beiden Ersatzgendarmen, welche Revierinspektor Winkler an diesem 3. Mai 1945 um zirka halb 8 ausgesandt hat.
    »Mit welcher Begründung?«, knurrt ihr Vorgesetzter, der inzwischen wieder voll adjustiert und stocksteif, wie wenn er demnächst einem Gendarmeriegeneral Meldung erstatten müsste, neben den Leichen im Lanhofgraben steht.
    »Mit der Begründung, dass sie Derartiges nicht ansehen könnten, Herr Revierinspektor.«
    »Und der Herr Ortsgruppenleiter kann wegen einer momentanen Erkrankung nicht, Herr Revierinspektor«, sekundiert der jüngere der beiden Ersatzgendarmen, der aber auch schon am gesetzlichen Pensionierungsalter kratzt.
    Akute Schwänzitis, ärgert sich der Revierinspektor, die wollen mich mit der Verantwortung alleine lassen.
    »Dann holt ihr mir den SS-Lagerführer Karl Fricke und den O.T.-Führer Eduard Waldhauer vom SS-Umsiedlerlager in Persenbeug. Verstanden?«
    »Fricke und Waldhauer vom Umsiedlerlager, jawohl!«, wiederholen sie den Befehl und sind schon wieder dahin, froh darüber, nicht länger in die Augen einer verbrannten Leiche oder in das angespannte, scharfe Gesicht ihres Vorgesetzten schauen zu müssen.
    Wenn jemand dafür Rechenschaft ablegen muss, denkt der, möchte ich nicht alleine dastehen. Ich muss schnellstens den Landrat und den Gendarmerie-Kreis in Melk informieren und schauen, dass ich nicht als Einziger übrig bleibe. Gleichzeitig muss ich die Leute hier irgendwie schützen, obwohl es wahrscheinlich einige von ihnen nicht verdient haben. Aber ihr Wohl und Wehe ist mit dem des Postens verknüpft. Wer weiß, ob die Russen so feine Unterscheidungen machen …
    Was mache ich bloß, wenn die SS tatsächlich zurückkommt?, fragt sich Winkler. Reden oder schießen?
    Es ist 8 Uhr morgens und Revierinspektor Winkler beginnt seine Tatbestandsaufnahme. Die 3 Unparteiischen, die er vorgeladen hat, bekommen glasige, durchsichtige Augen, grünweiße, teigige Gesichter und weiche Knie, als er sie zusammen mit den beiden Nationalsozialisten aus dem SS-Umsiedlerlager von der ersten zur zweiten und dann auch noch zur dritten Exekutionsstätte führt.
    »Kotzen gilt nicht«, meint dagegen Karl Fricke, und es soll munter und scherzhaft klingen, aber niemand verzieht auch nur ansatzweise eine Miene, nicht einmal der O.T.-Führer Eduard Waldhauer, Frickes informeller Adlatus, der kreidebleich und schweigsam mitstapft.
    Die Götterdämmerung hat sich der wohl auch etwas anders vorgestellt, denkt der Revierinspektor, der von zweien seiner Gendarmen mit geschulterten Karabinern begleitet wird. Jeder der Anwesenden hätte sich etwas Angenehmeres zu tun gewusst, nur dem Fricke scheint die grauenhafte Angelegenheit sogar ein wenig Spaß zu machen.
    »Wir werden eine ordentliche, würdige Grabstätte brauchen!«, wendet sich Winkler direkt an die 3 Unparteiischen Buchinger, Haider und Rammler. »Also, überlegt’s euch was!«
    Spätestens jetzt ist den 3 nicht mit Parteifunktionen belasteten Persenbeuger Honoratioren klar, dass dieser bis vor kurzem noch ortsfremde Revierinspektor nicht nur am Gendarmerieposten das große Wort führt, sondern offenbar auch nicht im Geringsten gewillt ist, mit der Verantwortung allein zu bleiben – ein Grund mehr, sich hundsmiserabel zu fühlen.
    »Aber, aber, nur keine solchen Umstände!«, mischt sich Fricke ein, bevor er an Winkler gewendet fortfährt: »Seien Sie doch froh, dass die Juden weg sind! Über den Jordan! Diese dreckigen, verlausten Itzigs! Die Lebensmittelmarken sollten sofort dem SS-Umsiedlerlager zugute kommen oder minderbemittelten Parteigenossen mit mehreren Kindern!«
    Fricke, so kommt es Winkler vor, ist in den letzten Tagen noch feister geworden, wie ein wohlgenährter Karpfen steckt er in der abgetragenen Uniform eines SS-Oberscharführers. In seinem breiten Ledergürtel steckt wie immer der schwere russische Trommelrevolver. Der Revierinspektor

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