223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
Vormittag seine Unterkunft verlässt und sich raschen Schrittes Richtung Westen wendet, auf Schloss Persenbeug zu. Zuvor haben ihm seine beiden Unterkunftgeber beim gemeinsamen Frühstück, das aus 2 Schnitten Brot für jeden sowie Eichelkaffee mit ein paar Tropfen bläulicher Magermilch besteht, aufgeregt vom Massaker erzählt. Offenbar hat sich, während der Untermieter ein wenig länger als gewöhnlich in den Morgen hinein schlief, die Nachricht von der nächtlichen Ermordung der ungarischen Juden aus den Kraftwerksbaracken der Rhein-Main-Donau AG bereits wie ein Lauffeuer in der Ortschaft verbreitet.
»Wie viele?«, fragt Klemens Markus atemlos. Ihm ist mit einem Mal der Appetit vergangen. Er lässt seine zweite Brotschnitte unangetastet auf dem Teller liegen und wiederholt drängend seine Frage: »Wie viele denn, um Himmels willen?«
»Viele«, antwortet sein Zimmerherr und zieht rasselnd Luft in seine Bronchien. Der grippale Infekt der letzten Tage hat sich bei ihm auf die Lungen geschlagen.
»Wie viele?«, insistiert der Untermieter.
»Viele«, wiederholt der alte Mann. »Alle.«
»Wo?«, fragt Klemens Markus drängend und noch immer atemlos vor Entsetzen.
»Man sagt, es gibt 2 oder 3 große Leichenhaufen am Priel«, antwortet der Alte. »Das ist nördlich von den Baracken in Hofamt Priel, die Höhenstraße hinauf in Richtung Yspertal.«
»Wie wurden die Leute denn umgebracht?«, fragt Klemens Markus weiter.
»Erschossen natürlich, alle erschossen. Zack, bumm«, antwortet sein Vermieter ungerührt. »Und dann auch noch mit Benzin übergossen und angezündet … Was für eine Verschwendung, wo wir doch das Erdöl vom Kaukasus und die rumänischen Petroleumfelder verloren haben!«
»Es hat aber geregnet in der Nacht, der Herrgott hat ein Einsehen gehabt und die Feuer gelöscht«, seufzt seine Frau.
»Trotzdem eine Verschwendung«, beharrt ihr Ehemann.
Die Frage, wer das Massaker verübt habe, wagt Klemens Markus nicht einmal diesen beiden, ihm im Prinzip wohl gesonnenen Menschen zu stellen. Als Ortsfremder, als Wiener, als jemand mit starkem slawischem Akzent hat er längst ein Gespür für gewisse Grenzen entwickelt.
»Die SS fackelt nicht lange. Die haben noch genug Munition«, murmelt der Alte kauend, bevor ihm ein längerer Hustenanfall das Wort abschneidet.
Klemens Markus steht kommentarlos vom Frühstückstisch in der Wohnküche der beiden alten Leutchen auf und begibt sich in sein Zimmer. Spontan beschließt er, heute nicht zur Gärtnerei zu gehen, wo er seit Wochen als Hilfsarbeiter tätig ist. Die Naturalien, das frische Gemüse, mit dem er dort bezahlt wird, hat ihn, aber auch seine Unterkunftgeber am Leben erhalten. Aber heute, denkt er, gibt es Wichtigeres als Pastinaken und Glashaussalat. Hastig packt er den Fotoapparat in seinen alten Leinenrucksack und verlässt grußlos das Haus.
Marton Rosenthal aus Oroshasza erzählt. Er steht im Matsch vor der mittleren Baracke des Judenauffanglagers am Donauufer und erzählt, erzählt diesem seltsamen älteren Mann, der keine Waffe, keine Uniform hat, nur ein offenes, interessiertes, mitleidiges Gesicht, und dessen Sprache eine ganz andere Färbung hat als das Idiom der Bauern, der Gendarmen, der Volkssturmmänner von hier, von der SS ganz zu schweigen. Marton Rosenthal steht knöcheltief im Matsch und fühlt sich nicht gerettet, nicht erlöst von der Todesdrohung, sondern unendlich beschwert und belastet und bedrückt. Er meint jedes einzelne seiner 65 Lebensjahre schmerzhaft in seinem Körper zu spüren. In den Knöcheln, in den Beinen, in seinen Hüften und vor allem in seinem arg verwundeten Rücken. Der Schusskanal tut höllisch weh, und Marton Rosenthal hat Schwierigkeiten beim Luftholen. Manchmal brennt ihn der Schmerz zusammen wie Höllenfeuer, wie flüssiges Blei. Vor allem, wenn er etwa versucht, einen Arm anzuheben, um irgendetwas in seiner Erzählung mit einer Geste zu unterstreichen, mit einer Handbewegung zu verdeutlichen. Der angeschossene alte Mann erzählt von der SS, die gestern Abend die Baracken gestürmt, sie aus den Betten, von den elenden Schlafstellen gezerrt habe. Er erzählt von den Lügen der Uniformierten, die ihnen gesagt haben, sie würden mit Lastautos nach Linz abtransportiert. Stattdessen seien sie in einer Gruppe von 50 bis 60 Mann in Richtung Hofamt Priel getrieben und dort schließlich in einen Graben geführt worden.
»Als wir durch den Graben geführt wurden, wollte ein Mann flüchten. Der wurde gleich
Weitere Kostenlose Bücher