2248 - Friedenskämpfer
War das Neugierde? Vielleicht. Vor allem aber die Erkenntnis, dass nichts eindeutig war. Licht gebar Schatten, und aus der Nacht entstand der Tag, die Hitze eines Sterns erlosch im kalten Nichts des Alls. Noch mehr Gegensätze kamen ihr in den Sinn, die zusammengehörten: Liebe und Hass. Leben und Tod. Wie banal klang das und war doch die Wurzel allen Seins. „Ich will leben!" Ihre ersten Worte. Leben ...! In geordneten Bahnen! Das Chaos machte ihr Angst. Wimmernd krümmte sie sich zusammen, versuchte ihre innere Ruhe wiederzufinden.
Eine jähe Berührung ließ sie hochschrecken, sie schnellte auseinander, spürte eine Hand sich um ihre Schulter schließen, die Finger sich tief ins Fleisch graben. Der Schmerz zwang sie, die Augen zu öffnen - und im selben Moment explodierte die Schwärze, ihr bislang einziger Schutz.
Sie schrie. Aber der schluchzende, abgehackte Protestschrei brach sofort wieder ab. Inmitten greller Helligkeit gewahrte sie die Konturen eines Gesichts. Es war ein ebenmäßiges Antlitz mit gütigen und wissenden Augen.
Weisheit spiegelte sich in ihrem Blick, das Wissen um viele Dinge, von denen sie selbst noch keine Vorstellung hatte, aber ebenso ein Zug von Belustigung.
Die Mundwinkel verzogen sich zu einem ironischen Lächeln. „Deine Geschwister wurden sich schon vor Stunden ihrer Existenz bewusst."
Sie lauschte dem verhallenden Klang. Geschwister? Demnach bin ich nicht allein '" dieser Welt? „Du hattest Probleme?"
Ich? Nein Bestimmt nicht. Ihr Gegenüber erschien ihr wie ein Jüngling, aber sie registrierte die Ausstrahlung eines uralten Wesens. Den Mann richtig einzuschätzen war nicht leicht. Sie spürte Weisheit und Friedfertigkeit - und vielleicht sogar einen Hauch von... Chaos?, dachte sie verwundert.
Er schüttelte den Kopf. „Du bist verwirrt, Lyressea. Weil sich deine Geburt fast zu lange hingezogen hat..."
Sie achtete kaum mehr darauf, was er sagte. Lyressea ..., wiederholte sie in Gedanken. Ich bin Lyressea. Gleich darauf benutzte sie ihre Stimmbänder: „Wie viele sind wir?", wollte sie wissen.
Sie waren drei Männer und drei Frauen. In einer Umgebung, die Lyressea verwirrte, die keineswegs kalt wirkte, doch unpersönlich, nicht fremd, aber mechanisch. Eben eine künstlich erschaffene Perfektion.
Zwei Tage verbrachte sie in einem Zustand, der ihr wie ein Balancieren zwischen Traum und Wirklichkeit erschien, dann schickte sie sich an, die Halle zu verlassen, in der sie erwacht war.
Erwacht? Das bedeutete, dass sie nur geschlafen hatte. Jedoch fehlte ihr die Erinnerung an ein Früher, an die Zeit vor dem Schlaf. Vergeblich forschte sie danach in ihren Gedanken.
Andererseits fand sie ein umfangreiches Wissen, das sie irgendwann gelernt haben musste. Sie kannte Sonnen, Planeten und Monde ebenso wie die Sternenvielfalt einer Galaxis und hatte eine Vorstellung von Clustern und gigantischen kosmischen Leerräumen.
Lyressea wandte sich noch einmal um. Es fiel schwer, die Halle in ihrer Ausdehnung zu überblicken. Mitunter entstanden Wände wie aus dem Nichts, und andere lösten sich auf. Es gab keinen Schattenwurf, weder Wind noch Regen - nichts, was sie mit der Oberfläche eines Planeten assoziiert hätte. Es gab auch kein lebendes Wesen außer ihr und ihren Geschwistern. Nur Maschinen in den unterschiedlichsten Formen, die ihnen jeden Wunsch erfüllten, noch ehe er ausgesprochen war.
Lyressea schwebte eine Handspanne über dem Boden. Sie verlagerte ihr Körpergewicht und stand übergangslos wieder auf festem Untergrund. Mit diesen aus dem Nichts heraus entstehenden Transportfeldern umzugehen, hatte sie in den beiden Tagen gelernt. Es waren die gleichen Felder wie jenes, auf dem sie erwacht war.
Sie näherte sich einer massiven, stahlgrauen Wand. Es gab keine Öffnungen, keine Fenster. Zögernd streckte sie eine Hand aus und kratzte mit ihren silbernen Fingernägeln über den Stahl. Sie spürte nicht die winzigste Unebenheit. Schließlich begann sie wieder zu laufen, wie schon so oft zuvor. An der Wand entlang. Gleichmäßig klatschten ihre nackten Füße auf den Boden.
Aber war da nicht zugleich ein anderes Geräusch? Es klang wie ein fernes Lachen. Lyressea hielt inne. Sie lauschte. Das Lachen wurde lauter. Oder erschien ihr das nur so, weil sie sich darauf konzentrierte? Sie hätte in dem Moment nicht zu sagen vermocht, ob sie dieses hallende Gelächter wirklich hörte oder ob es in ihrer Einbildung entstand. Es klang amüsiert, wurde sogar spöttisch ...
Lyressea
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