225 - Kalis Kinder
Fremden, die hier tagtäglich aufkreuzten, fiel der mittelgroße Fünfunddreißigjährige mit der kräftigen Figur und dem glatt rasierten Gesicht unter einem großen blaugelben Turbaan nicht auf. Kuduvasi, der mit grimmiger Entschlossenheit hierher gekommen war, zum allerersten Mal übrigens, war zufrieden. Er wusste nun, wo die Wachtürme standen, die Befestigungsmauern und die Stacheldrahtverhaue verliefen und wo eventuelle Schwachstellen waren. Für seine erste Erkundung hatte er bereits sehr viel erfahren, wie er fand.
Kuduvasi bekam die Ankunft der Fremden in dem erstaunlichen Luftschiff und das Gemetzel an den Tygern mit.
Sein Herz blutete, aber er konnte nichts tun. Er übernachtete in der Stadt. Allerdings im Freien, in einem mit Gras bewachsenen Hain. Früh am nächsten Morgen machte er sich auf den Rückweg in seine Heimat. Gute acht Kilometer hatte er zu gehen, zum Teil durch nahezu undurchdringlichen Dschungel. Immer wieder schuf er sich mit seiner Macheta schmale Wege. Lichtbahnen brachen durch die noch nicht sehr dichten Baumkronen und zauberten allerlei wundersame Muster in den Wald. An einem Ast hingen bewegungslos zwei große Bateras. Nur ihre Augen folgten seinen Bewegungen.
Kuduvasi schluckte. Er bereitete sich auf einen Angriff vor, aber die nachtaktiven Biester schienen bereits gefrühstückt zu haben. Sie ließen ihn in Ruhe. Er atmete auf.
Es raschelte zwischen den Büschen, ein Zweig brach, eine Herde Monkees veranstaltete plötzlich ein irrwitziges Gekreische in den Baumwipfeln. Kuduvasi umklammerte die Macheta fester. Erneute Gefahr? Er sah nach links, von wo das Rascheln gekommen war. Hinter dicht hängenden Lianen tauchte für einen Moment ein schwarzgelb gestreiftes Schemen auf. Ein verirrter Lichtstrahl brach sich auf mächtigen Reißzähnen.
Ein Tyger!
Kuduvasi seufzte erleichtert auf. Nun musste er keine Angst mehr haben. Poona war gekommen, um ihn zu begleiten und zu schützen. Dass sein persönlicher Tyger überlebt hatte, hatte er bereits zuvor gefühlt.
Nach mehreren Stunden Marsch lichtete sich der Dschungel ein wenig vor Kuduvasi. Er beschleunigte seine Schritte, als die mächtige Statue der vielarmigen Göttin vor ihm auftauchte.
Ein kleiner Wald aus hoch wuchernden Farnen umgab sie, der Sockel, auf dem sie stand, wurde allmählich Beute des sich rasch ausbreitenden Mooses. Deine Befreiung von der Pflanzenpest wird eine meiner nächsten Aufgaben sein, meine Göttin, dachte Kuduvasi. Nichts darf dir deine Pracht und Herrlichkeit nehmen, auch der Dschungel nicht. Das wäre eigentlich schon Pancas Aufgabe gewesen. Aber im Moment ist anderes sehr viel wichtiger. Er streckte Kali für einige Sekunden die Zunge heraus. Da dies auch die Göttin tat, begrüßten die Jünger Kalis ihre Führer schon von jeher auf diese Weise – und natürlich auch die Göttin selbst.
(Tatsächlich ist Kali auf vielen Darstellungen mit herausgestreckter Zunge zu sehen.)
Kuduvasi ging zu der Statue. Er nickte Poona zu. Der Tyger fauchte leise und verschwand zwischen den Farnen. In diesem Moment tauchten wie aus dem Nichts zwei bewaffnete Wächter auf, groß gewachsene, stämmige Burschen. Einer hatte eine Glatze und große, silberne Ringe an den Ohrläppchen.
Fast synchron legten sie ihre rechte Faust aufs Herz und streckten Kuduvasi die Zunge heraus. Er tat es ihnen gleich.
»Willkommen zurück, Kuduvasi«, sagte der Glatzkopf.
»Danke, Sadista. Irgendwelche Vorkommnisse während meiner Abwesenheit?«
»Keine.«
Kuduvasi begab sich zur Rückseite der zehnarmigen Statue.
Der Oberkalii legte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand in die leeren Augenhöhlen eines erhaben gearbeiteten Totenkopfes an der Rückseite des Sockels und zog daran. Es knirschte im Gestein und ein etwa mannshohes Tor öffnete sich in dem Maße, in dem der Stein langsam im Erdboden verschwand. Kuduvasi stieg die eiserne Leiter hinunter, die ihn in eine große Felsenhöhle führte. Überall brannten Fackeln, breite und schmale Gänge gingen nach allen Seiten ab, manche gerade, andere schräg in die Tiefe.
Kali-Jünger wieselten eifrig hin und her. Der Göttin war Müßiggang ein Gräuel. Kuduvasi musste an die hundert Mal die Zunge heraus strecken.
So geht das nicht weiter, dachte er entnervt. Ich werde mir einen Geheimgang bauen lassen, in dem ich unbelästigt kommen und gehen kann. Vielleicht reicht es auch, wenn ich künftig die Loren benutze …
Für diese gab es zwei gleisbelegte Strecken. Eine, die ins
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