2298 - Bericht eines Toten
„Analyse!", forderte Rhodan. „Nach wie vor gilt, dass der Feind nicht genügend Schiffe hat, um das gesamte Solsystem zu verteidigen", antwortete die Hauptpositronik.
Warum sollte er auch?, dachte Rhodan lakonisch. Es gab im Solsystem für Gon-Os Truppen nur zwei wirklich wichtige strategische Punkte. Der eine war Neapel mit dem Groß-Relais am Vesuv. Diese Position konnte die terranische Flotte ohnehin nicht angreifen, denn die Gewalt, die einen Kybb-Titanen vernichtet hätte, reichte vermutlich aus, die ganze Erde in Stücke zu reißen. Und das wusste Gon-O auch.
Der zweite bedeutsame Punkt war die Sonne. Gon-O musste sie weiterhin aufheizen, um den „Point of no return" einzuleiten. Sobald der erreicht war, würde sie unweigerlich explodieren und dabei ARCHETIMS Korpus hinausschleudern. Das war Gon-Os eigentliches Ziel.
Alle anderen Punkte des Solsystems würde er voraussichtlich preisgeben, wenn es ihm günstig oder angemessen erschien.
Ich habe nur einen Trumpf, dachte Rhodan. Gon-O wusste zwar, dass die terranische Flotte über Dissonanzgeschütze verfügte. Er hatte jedoch nur Kenntnis von 24 Geschützen sowie dem einen in der TRAJAN.
Aber keine von den weiteren 1220' Einheiten, die sie praktisch unter seiner Nase auf Luna hergestellt hatten.
Das war jedoch die einzige Karte, die er ziehen konnte. Ihm missfiel es, alles auf eine Karte zu setzen, nichts mehr in der Hinterhand zu haben, aber er hatte keine Wahl.
Und jedes Zögern war verderblich. Gon-O musste nur abwarten, bis der „Point of no return" überschritten war, und hatte gewonnen. „Sofortiger Angriff nach Plan Luchs", befahl er. Die übrigen Flottenbewegungen liefen nach den von den Positroniken ausgearbeiteten Szenarien ab. Sie waren gespeichert und wurden von der Hauptpositronik im Millisekundentakt weitergegeben.
Wäre Bully doch hier, dachte Rhodan. Als Kommandant von PRAETORIA ....' Auch ohne seinen ältesten Freund verlief alles planmäßig. PRAETORIA koppelte die sechs Seitenblöcke ab und bildete mit dem Kernblock sowie weiteren LFT-BOXEN und ENTDECKERN sieben Offensiv-Geschwader.
Lass mich niemals glauben, ich sei Herr über Leben und Tod, ging Rhodan ein Gedanke durch den Kopf, der ihn seit der Operation Kristallsturm II nicht mehr losließ. Es war eine Mahnung an sich selbst, eine Warnung - aber auch ein frommer Wunsch. Er war Herr über Leben und Tod; jeder Befehl, den er nun erteilte, würde über das Wohlergehen oder Verderben von Hunderttausenden, wenn nicht sogar Millionen Menschen entscheiden.
Wie kann ich diese Verantwortung tragen? Sie liegt so schwer auf meinen Schultern, dass sie mich fast erdrückt ... Ich habe sie schon so oft übernommen, doch an sie gewöhnen konnte ich mich nie.
Doch welche Wahl blieb ihm? Jemand musste diese Entscheidungen treffen, und das war nun einmal er. Oder sollte er Sol und das gesamte Sonnensystem der Vernichtung preisgeben?
Einen Moment lang lockte ihn diese Vorstellung. Wenn Gon-O erst ARCHETIMS Korpus hatte, würde er wahrscheinlich abziehen, und es blieb noch Zeit, einen großen Teil der Bewohner des Sonnensystems zu retten ... „Nein", flüsterte er. Auch in diesem Fall wäre er Herr über Leben und Tod. Dann musste er entscheiden, ob die Schiffe seiner Flotte Neapel oder Sydney anfliegen würden, Rastatt oder Oldenburg. Konnte er diejenigen, die in Terrania lebten, vorziehen, nur weil sie dort wohnten ... in seiner Stadt? „Die beiden Titanen gehen auf Überlichtgeschwindigkeit!", riss der Ortungschef ihn aus den müßigen Gedanken. „Der über Neapel?", fragte er. „Wie erwartet bleibt der Vesuv-Titan in Position, ebenso die fünfzig Gigantraumer in der Sonnenatmosphäre!"
Rhodan nickte. Gegenüber dem letzten Angriff, im Zuge von Operation Kristallsturm II, hatte sich optisch am Auftreten der Flotte praktisch nichts geändert. Warum also sollte sich der Feind Sorgen machen? Den Scheinangriff .hatte er mit fast spielerischer Leichtigkeit abgewehrt...
Alarmsirenen gellten auf. „Die beiden Titanen sind in den Normalraum zurückgestürzt!"
Rhodan entnahm den Ortungsholos, dass sie die Jupiterbahn noch nicht erreicht hatten; dafür wäre die Zeit im Überraum auch zu kurz gewesen. Datenholos zeigten, dass sie fast in Kernschussreichweite eines Geschwaders der Heimatflotte waren, Schiffen, die unter den neuen Bedingungen der erhöhten Hyperimpedanz kaum einsatzfähig waren.
Er stöhnte leise auf, als die Energieortung massive Entladungen verzeichnete. Ihm war sofort
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