23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
war. Einen längst entwurzelten Baum wirft, sei er noch so groß und stark, schließlich doch ein kleiner Druck schon um.
Wir schlüpften an einer der Stellen, wo die Mauer frei in der Luft schwebte, unter ihr weg und befanden uns dann im hinteren Becken. Es war, wie ich vermutet hatte, nicht so groß wie das vordere. Säulen schien es nicht zu geben. Wir umruderten es in kurzer Zeit. Es bildete einen Halbkreis, dessen schnurgerade gebauter Durchmesser die Mauer war. Der Bogen bestand aus lückenlosem Fels, der sich hoch oben nischenförmig zusammenzuneigen schien. Als ich dies bemerkte, fiel mir die Sage von ‚Chodeh, dem Eingemauerten‘ ein, welche Schakara mir erzählt hatte. Fast unbegreiflicherweise war dieser Fels fast glänzend schwarz, so ungefähr wie recht dunkler, polierter Serpentin. Wie das wohl kam?
Nachdem wir nun den Umfang dieses Innenbeckens kennengelernt hatten, beschlossen wir, es auch einmal zu durchqueren. Da stießen wir schon nach wenigen Ruderschlägen auf einen aus dem Wasser ragenden Riesenblock von genau rechteckiger Gestalt. Er war feucht, schlüpfrig, unten weiß überkalkt, je höher hinauf aber um so trockener und dunkler. Seine Kanten waren so geradlinig und scharf, daß ich diese Regelmäßigkeit für Menschenarbeit halten mußte. Seine oberen Linien lagen im Bereich unserer Flammen. Auch sie waren genau wie nach Schnur oder Wasserwaage gebildet. Das Ganze hatte so sehr das Aussehen eines allerdings gewaltigen Sockels oder Postaments, daß ich eine der Fackeln nahm, mich aufrichtete und in die Höhe leuchtete, um zu sehen, ob sich etwas darauf befinde, was seinen ganz ungewöhnlichen Dimensionen entsprechend war. Und richtig! Fast glich meine Überraschung einem frohen Schreck! Das Licht fiel auf etwas wunderbar rein weiß Glitzerndes, etwas so schneeig Zartes und Unbeflecktes, daß ich zunächst meinen Augen gar nicht trauen wollte. Dieses lautere, keusche, unschuldige Weiß, auf welchem Millionen Flammenkörnchen brillierten, kam mir nach allem, was wir hier unten bisher gesehen hatten, so heilig, so unbegreiflich vor, als ob mein Blick auf etwas Überirdisches, vollendet Seelisches gefallen sei!
„Siehst du etwas, Effendi?“ fragte Kara unter mir.
„Ja“, antwortete ich, noch immer staunend.
„Was?“
„Etwas wie aus dem Paradies! Wir haben die Dschehennah (Hölle) hinter uns, den Ort des steingewordenen Erdenfluchs. Hier aber ist es mir, als sei der Fluch in Segen umgewandelt, und was dort Kalk im Todeswasser war, das kniet hier erlöst im alabasternen Gebet!“
„Ich höre dich, aber ich verstehe dich nicht!“
„Das glaube ich! Auch ich kann nicht verstehen, wie das, was ich jetzt sehe, hierher gekommen ist. Es kniet hier jemand, den ich bloß nur ahne. Ein betender Gigant! Mir leuchtet nur das eine, das er vor Gott, dem Allerhöchsten beugt; das andre steigt empor in Nacht und Grauen. Hebt er die Hände fordernd auf zum Himmel? Hält er sie still gefaltet in Ergebung? Hebt er kühn seine Stirn? Ist sie gesenkt zur Erde? Wirft er den Blick vertrauensvoll ins Weite? Bedeckt er zaghaft ihn mit demutsvollen Lidern? Was frage ich? Es ist genug, daß ich hier beten sehe!“
Ich ließ die Fackel sinken, steckte sie an ihren Ort und setzte mich wieder nieder. Es war mir, als müsse ich hier bleiben, bis irgendein Ereignis nahe, diese ‚Anbetung in der Verborgenheit‘ nach Matthäus 6 Vers 6 zu beantworten. Aber ich nahm mir vor, recht bald zurückzukehren und diesen Ort so genügend zu beleuchten, daß ich die ganze Figur, die hoffentlich kein Torso war, vollständig und deutlich vor mir stehen hatte. Für heute war unser Werk vollbracht.
Wir verließen das zweite Bassin, nachdem ich mir einige Notizen über dasselbe gemacht hatte. Das vordere nahm ich noch sorgfältiger auf. Und als wir wieder in den Hauptkanal einfuhren, maß ich mit Hilfe einer Leine, die wir im Boot fanden, einen der Steine bis auf den Zentimeter genau, und da diese Quader alle die ganz gleiche Länge und Höhe hatten, so war es später leicht, eine Zeichnung anzufertigen, die es mir ermöglichte, die unterirdischen Linien zu Tage festzulegen. Wir passierten das verschließende Gestrüpp ganz in derselben Weise wie bei unserm Kommen, und als wir dann den Sternenhimmel wieder über uns hatten und die Zeit bestimmen konnten, sahen wir, daß während unsers Aufenthalts in der Unterwelt doch mehr als zwei Stunden vergangen waren. Die Fackeln hatten wir natürlich verlöscht, bevor wir wieder in
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