23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
nichts geschehen. Bleiben wir zunächst am Rand des Wassers! Hier links ist es alle. Wenn wir nach rechts hinüber diesem Rand folgen, bis wir zur jetzigen Stelle zurückkehren, haben wir seine Ausdehnung kennen gelernt und wissen, was es uns hierauf noch bietet. Komm!“
Wir lenkten vom Kanal rechts ab und fuhren längs der überstark erscheinenden Mauer hin, an deren anderen Seite wir uns im Nebenkanal befunden hatten. Ich zählte ihre Quader. Sie war hier etwas länger als drüben und schloß einen zweiten Seitenkanal mit ein, welcher zu unserer anderen Hand nicht durch eine feste, kompakte Wand, sondern durch natürliche Pfeiler eingefaßt wurde, deren Höhe eine so beträchtliche war, daß wir die Decke selbst dann, als ich noch eine Fackel anbrannte, nur undeutlich sehen konnten. Diese Decke reichte auch hier nicht bis ganz an das Ende des Kanals. Es gab auch hier eine dunkel gähnende Öffnung oben, die irgendeinen Zweck gehabt haben mußte. Indem ich prüfend emporschaute, äußerte sich Kara:
„Wahrscheinlich stürzte man auch hier diejenigen Personen herunter in den Tod, die man verschwinden lassen wollte! Es gibt zwar kein bestimmtes Zeichen hierfür, aber – – – Allah 'l Allah! Sieh dorthin! Was liegt da auf dem Stein?“
Er deutete nach dem letzten der erwähnten Pfeiler. Dieser ragte in einem Durchmesser von wenigstens sechs Meter aus dem Wasser, verjüngte sich aber sofort in einer Weise, daß dieser Durchmesser kaum noch zwei Meter betrug. Hierdurch entstand eine ebene Platte von vier Meter Breite, und auf dieser lag das, was Kara veranlaßt hatte, seinem Satz ein so erschrockenes Ende zu geben. Wir paddelten das Boot hin und sahen, daß der betreffende Gegenstand ein menschliches Gerippe war, ganz zusammengekrümmt, die Knie bis an den Leib herangezogen, die eine Hand geöffnet, um nach Hilfe auszufassen, die andere aber geballt, wie in fluchender Drohung ausgestreckt.
„Das ist einer der Unglücklichen, von denen ich sprach!“ rief Kara aus. „Er hat schwimmen können und sich über Wasser gehalten, bis er in der Finsternis zufälligerweise an den Pfeiler stieß. Er fühlte die ebene Stelle und kroch hinauf. Da ist er dann elend verschmachtet, verhungert, zugrundegegangen. Wie mag er gebetet, geflucht, geschrien, gewimmert haben in dieser schrecklichen, nassen, erbarmungslosen Unterwelt! Geächzt, gestöhnt, gebrüllt, gezetert in fürchterlicher Qual und Todesangst, bis ihm die Heiserkeit die Stimme raubte, so daß er nur noch innerlich zu fluchen vermochte und mit dem letzten Fluch zu Allah ging, der ihn erhören mußte!“
Ich sagte nichts. Die Untersuchung des Skeletts war mir wichtiger als alle Reflexionen. Es war feucht, aber hart wie Stein, von Kalk ganz durch- und überzogen. Ein ausgewachsener Mann in den kräftigsten Jahren. Eine hohe, breite Stirn. Im Leben wohl ein schöner, kluger Denkerkopf. Der erste Gedanke seines Lebens ein Segen für die Mutter, der letzte eine Verwünschung seiner Geburt! Wie lange lag das versteinerte Gerippe hier an dieser Stelle. Jahrhunderte? Jahrtausende? Welchem Volk, welchem Stand, welcher Religion gehörten die Gräßlichen an, die ihn in einen derartigen Tod geschleudert hatten? Ich vermutete grad über uns den zweiten Werkstückbau mit den beiden Hochreliefs. Also Heiden!
„Fort von hier“, sagte ich. „Ich habe mich absichtlich warm angezogen, weil ich mir sagte, daß es hier unten naßkalt sein werde. Aber ich glaube, hier friert auch mich!“
Das Bassin bog sich von hier nach links, um erst einen dritten und dann noch einen vierten Seitenkanal zu bilden. Und sonderbar: Erstens lagen diese Kanäle meiner Vermutung noch genau unter der dritten und vierten Etage der Ruinen. Und zweitens endete jeder mit einer ähnlichen Deckenöffnung wie wir bei den beiden ersten beobachtet hatten. Wozu diese schauerliche Verbindung der sonnigen Oberwelt mit dem lichtlosen, unterirdischen Becken? Wasser war da oben doch stets und für alle Bedürfnisse mehr als genug vorhanden gewesen! Waren die Gründe vielleicht ebenso finster und unerbittlich wie die eiseskalte Flut, die unser Boot jetzt trug?
Indem wir wenden wollten und darum die Ruder tief in das Wasser tauchten, brachten wir dieses in lebhaftere Bewegung als bisher. Dieser Wellenschlag vervielfältigte in der Tiefe die Bilder unserer Fackelflammen. Die Brechung des Lichtes bewirkte ein scheinbares Emporsteigen alles dessen, was sich da unten befand, und so erhob sich vor unseren Augen eine
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