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23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV

23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV

Titel: 23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Menge menschlicher Gestalten, welche sich zu bewegen und drohend auf uns zuzuschwimmen schienen. Kara stieß einen gellenden Ruf des Schreckens aus, und auch auf mich wirkte dieser Anblick so, daß mir fast das Ruder entfallen wäre.
    „Leichen, nichts als Leichen, über denen wir uns befinden!“ preßte der junge Haddedihn hervor. „Effendi, leben wir noch, oder sind wir gestorben und müssen selbst auch da hinunter?“
    „Fasse dich, Kara!“ ermutigte ich ihn. „Wir leben, und auch unter uns ist nicht der Tod, sondern etwas ganz anderes. Was das Verbrechen früherer Zeiten zu verbergen und zu vernichten suchte, das wurde durch das schwer kalkhaltige Wasser in Stein verwandelt, damit man später wisse, was der, welcher wirklich Mensch ist, von dem zu erwarten habe, der sich mit seinem Menschentum nur brüstet. Was du jetzt sahst, war Kalk, war Gips, war aufgelöster, weißer Ruchamstein. Denk dir, es seien bloß nur Marmorbilder, die man hier tief versteckte, damit sie nicht in falsche Hände kommen möchten! Rudern wir ruhig weiter!“
    „Ja. Aber brenn noch eine Fackel an, damit es lichter um uns werde! Mir ist, als schaute rings der Tod aus tausend leeren Augenhöhlen zu uns her, und das ist eine Vorstellung, die mich peinigt!“
    Ich tat es. Dann setzten wir die Untersuchung fort. Diese ergab, daß wir es nicht mit einem, sondern mit zwei Wasserbecken zu tun hatten, einem vorderen, in dem wir uns befanden, und einem hinteren, welches wir einstweilen noch unbeachtet ließen, um das erstere vollständig kennen zu lernen. Wir vermuteten über uns eine hohe Wölbung. Sehen konnten wir sie nicht. Sie wurde von natürlichen, regellos stehenden Pfeilern getragen, Überreste der Steinwände, deren weiche, erdige Zwischenfüllung das Wasser weg- und in den See gespült hatte. Auch diese Wände waren nach und nach aufgelöst und zerfressen worden, und was von ihnen noch übrig war und von mir als ‚Säulen‘ bezeichnet wurde, sah so zerrissen, zerklüftet und durchlöchert aus, als ob es jeden Augenblick zusammenbrechen müsse. Diese Deckenträger hatten alle, ohne Ausnahme, das Aussehen, als ob sie aus weißem Pfefferkuchen beständen, der im Wasser gelegen habe und nur notdürftig getrocknet worden sei, um wenigstens einen Anschein von Festigkeit zu bekommen. Es gab in diesen ausgelaugten Gebilden Stellen, bei deren Anblick es mir war, als ob ich sie laut krachen und prasseln höre und als ob sie sich schon bewegten, um zusammenzubrechen. Wenn ich an die ungeheuren Mauerlasten dachte, welche auf diesem höchst unzuverlässigen Gewölbe ruhten, unter dem ich mich befand, so wollte mich eine Gänsehaut überlaufen, und es prickelte mir ängstlich in allen Fingerspitzen. Kara schien ganz dieselbe Empfindung zu haben, denn er sagte:
    „Wer hier auf den Gedanken käme, eine Pistole abzufeuern, der wäre unrettbar verloren, denn der ganze Berg würde von dieser kleinen Erschütterung über ihm zusammenbrechen und ihn unter sich begraben! Wollen uns beeilen, fortzukommen, Effendi! Mir will fast bange werden!“
    „Nur noch das hintere Becken!“ sagte ich. „Vermutlich ist es nicht so groß wie dieses, und wir werden also schneller mit ihm fertig.“
    „Aber, um Allahs willen, nur leise, leise; das bitte ich dich! Ich sehe alles um und über uns wackeln!“
    Daß dieses Gefühl nicht falsch war, das sollte sich uns später mehr als deutlich zeigen! Jetzt aber ruderten wir nach dem Hintergrund, wo wir sonderbarerweise wieder auf Menschenarbeit trafen. Es gab eine breite Mauer von gewaltigen, unbehauenen Blöcken, welche auf kompaktem Fels errichtet worden war. Es schien, als ob man durch diese Mauer das hintere Bassin habe vollständig verschließen und verbergen wollen. Warum wohl das? Doch bestand dieser Fels aus Kalk. Das Wasser hatte auch hier so auflösend und zerstörend gewirkt, daß nur noch die allerhärtesten Teile von ihm vorhanden waren. Und auf diesen wenigen, leichten Überresten lag die ganze Wucht der Riesenmauer! Wie war es doch nur möglich, daß nicht schon längst hier alles, alles zusammengebrochen war! Ein Halt war hier nicht mehr zu suchen und zu finden. Er mußte anderswo liegen, seitwärts oder oben, in irgendeinem an sich geringfügigen Gegendruck. Hörte dieser auf, so stand die Katastrophe zu erwarten! Ein Gewitter, ein kleiner Erdrutsch oder etwas Ähnliches konnte die letzte, wenn auch unbedeutende Veranlassung zu dem gewaltigen Zusammenbruch sein, welcher längst schon vorbereitet

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