23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
diese vielen, die ich erblickte und die noch immer nachdrängten, sich da drin im Berg befunden hatten? Kann es wirklich eine solche Menge von Geistern gegeben haben, die von ihrer Gedankenhöhe stürzten, weil ihnen plötzlich dort der feste Boden schwand?
Endlich, als die Letzten erschienen waren, erhob das Skelett seine Stimme und sprach:
„Heut ist der erste Tag des neuen Lebens, der Tag an dem das Licht uns wiederkehrte. Wir sind voll Dank und sagen Lob und Preis. Schaut dort hinauf, zur halben Bergeshöhe! Der Mondstrahl zeigt uns die Rosensäulen; ein Tempel ragt, geweiht dem Dienst dessen, den unser Hochmut einst nicht anerkannte. Wir haben es gebüßt, jedoch nicht bis zum Ende. Noch ist das Werk des Fluches nicht vollbracht, den wir in Segen umzuwandeln haben. Es soll und muß geschehen, uns zur Buße. Wir haben nun den Schlüssel Hephata. Und was uns tödlich war, des Bildes Eigenlicht, wird sich im Bergesdunkel schnell verlieren. Dann kehren wir zurück und lassen jene Faust, die sich im Grimm des Fluches ballen sollte, zur offenen Hand des Fürgebetes werden. Jetzt aber kommt mit mir hinauf zum Tempel! Adan, der Stern der Erden Mitternacht, erglüht grad über uns. Wir müssen dort hinauf, dem einzig Einen zu sagen, daß wir wieder beten werden!“
Er wandte sich schwimmend der Stelle des Ufers zu, von welcher aus man nach dem Weg zum Beit-y-Chodeh kam. Die anderen folgten ihm. Ich aber blieb zurück. Wenn Geister beten, sei der Mensch bescheiden; er kann ihr Kyrie doch nicht verstehen!
Auch der ‚Zauberer‘ blieb halten. Wir sahen ihnen eine kleine Weile nach; dann fragte ich:
„Kommst du mit mir ans Ufer?“
„Nicht nur ans Ufer“, antwortete er. „Ich gehe mit dir heim, hinauf in deine stille Denkerklause. Da setzen wir uns an das Sternenlicht, und ich erkläre dir, warum es Schatten gibt und Fehler bei den Menschen. Komm!“
Wir schwammen nach der Landestelle und – sonderbar! Als ich da aus dem Wasser stieg war ich nicht naß; auch mein Gewand war trocken. So auch bei ihm. Er nahm mich bei der Hand. Wir wandelten durch den Duar, den Weg zum Haus empor. Das Tor war zu. Es öffnete sich selbst, sobald wir es berührten. Die andern Türen auch, bis wir in meinem Mittelzimmer standen. Da hörte ich von rechts her ein Geräusch, als ob ein Schlafender sich anders wende. Ich wollte schnell hinaus; er aber hielt mich fest und flüsterte mir zu: „Du darfst dich noch nicht wecken! Ich habe dir so viel, so Wichtiges zu sagen, daß du erstaunen wirst, wie sicherlich noch nie im ganzen Leben.“
Wir traten auf das platte Dach hinaus und schauten nach dem Beit-y-Chodeh hinüber. Der Sterne Glanz lag auf dem ganzen Tal; der Tempel aber stand in jenem Licht, das aus dem Alabaster hell ertönte – – – im Sonnengold, mit Himmelsblau vermählt. Die Geister lagen alle auf den Knien. Ein süßer Rosenduft umwehte uns. Kam er von drüben? Sollte er es sein, der uns die leise, leise Strophe brachte:
„In allen Himmeln leuchten heut die Sonnen;
Auf allen Erden wird zum Tag die Nacht,
Denn was der Wahn im blinden Haß begonnen,
Wird von der Wahrheit segensreich vollbracht!“
„Hörst du?“ fragte der ‚Zauberer‘. „Du wirst es nicht begreifen; ich aber will dir sagen, was sie meinen. Doch sollst du es nicht nur hören, sondern auch sehen. Schau mich an!“
Ich tat es. Was ging da mit ihm vor? Seine Gestalt begann zu verschwinden, sich wie in Nebel zu verwandeln. Doch nahm dieser Nebel sehr rasch wieder Formen an, und wer, wer stand da vor mir? Nicht mehr er, der ‚Zauberer‘, sondern der ‚Warnende‘, mit dem ich gesprochen hatte, ehe ich in den Berg gestiegen war. Ich sah nicht mehr den weißbehaarten Kopf mit stechend scharfen, kalten Feindesaugen, nein, sondern jene freundlich ernsten Züge und jenen weichen, väterlichen Blick, der bei der Frage, ob ich beten könne, besorgt und doch voll Hoffnung auf mir ruhte.
„Du wunderst dich“, sage er. „Und doch ist nichts geschehen, was zum Verwundern wäre! Wer geistig Mündel ist, den mag der Vormund warnen. Doch den Erwachsenen, den reifen Denker, den warnt des Irrtums eigene, andere Stimme, die stets die volle, reine Wahrheit spricht. Und dieser ist kein Vormund überlegen! Du hast dein Wort gehalten. Bist weder meinem anderen Ich noch jenem Wahn verfallen, der aller Welt den Schatten rauben will, weil er sich selbst für ohne Schatten hält. Du hast mich nicht besiegt und aber doch besiegt. Ich fühle mich verschuldet und
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