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23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV

23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV

Titel: 23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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doch gesprochen, und was es sprach, sitzt fest! – Du lächelst, Effendi! Warum?“
    „Weil du ein Freund dieser himmlisch reinen und irdisch doch so pfiffigen Wahrheiten zu sein scheinst“, antwortete ich. „Auch ich habe sie sehr lieb. Sprich weiter!“
    „Kennst du“, fuhr er fort, „das Märchen von dem Sonnenstrahl, der hier auf Erden König wurde und so mild und gut regierte, daß alle seine Untertanen, sobald sie starben, sich in helle Sonnenstrahlen verwandelten und zum Himmel stiegen?“
    „Ich kenne es.“
    „Auch das andere Märchen, von dem Schatten des Strahls?“
    „Nein.“
    „Der Schatten wollte es dem Licht gleichtun. Er fiel in ein tieferliegendes Land und nahm dort ganz genau die Gestalt des andern Herrschers an. Auch er machte sich zum Könige und ahmte alles wörtlich nach, was der gute Herrscher da oben tat und sprach. Aber er war leider nur der Schatten dieses Herrn. Weißt du, Effendi, was ein Schatten ist?“
    „Er ist das dunkle Kehrseitenbild derjenigen irdischen Wesen, welche im Licht des Himmels stehen“, antwortete ich.
    Das war freilich keine physikalisch genaue Definition, sollte das aber auch gar nicht sein. Ich ahnte, was der Ustad sagen wollte, und gab ihm die Erklärung die er dazu brauchte.
    „Richtig sehr richtig!“ stimmte er bei. „Der Schatten setzt das Licht voraus. Er ahmt die Gestalt nach, welche in diesem Licht steht. Aber die Nachahmung ist dunkel, so treu und so genau sie im übrigen auch ausfallen mag. Die Farbenbrechungen des himmlischen Lichts entgehen dem Schatten ganz und gar. Er ist der finstere, herz- und gewissenlose Doppelgänger von allem Lebenden, was es auf Erden gibt. Ob es wohl in der Geistes- oder Seelenwelt ebenso Schatten gibt wie in der Welt der Körper? Was meinst du wohl, Effendi?“
    „Natürlich gibt es sie.“
    „Wie denkst du dir das?“
    „Stelle etwas Geistiges oder Seelisches an das Licht, um es zu sehen, so wird sich sofort der betreffende Schatten einfinden. Hinter jeder Tugend steht dann das betreffende Laster, welches eine ganz genaue, aber kehrseitige Nachahmung aller ihrer Vorzüge ist. Hinter der weisen Sparsamkeit erscheint dann der Geiz, hinter der Freigebigkeit die Verschwendung, hinter der Wahrheitsliebe die grobe Rücksichtslosigkeit, hinter dem edlen Erwerbssinn der ordinäre Betrug und Diebstahl, hinter der Vorsicht die Feigheit, hinter dem Mut die Unbedachtsamkeit, hinter der Beredsamkeit das Schwätzertum, hinter der Verschwiegenheit die Starrköpfigkeit. Aber ich sehe auch noch andere Schatten stehen: Die rücksichtslose Tyrannei hinter der segensreichen Macht, das Schmeichlertum hinter dem Gehorsam, die Empörung hinter der Freiheit, den Mord hinter der Notwehr, die Scheinheiligkeit hinter der Frömmigkeit, die Schleicherei hinter der Demut, die Prahlsucht hinter der Selbsterkenntnis, den Völler hinter dem Esser, den Säufer hinter dem Trinkenden, den Vagabunden hinter dem Wanderer, den Verleumder hinter dem Richter. Soll ich noch weiter fortfahren, Ustad?“
    „Nein; es ist genug“, antwortete er. „Deine Aufstellung war sehr interessant, wahrscheinlich ohne daß du weißt, warum ich dies meine. Du brachtest Tugenden und Untugenden, Zustände und Regungen. Wie kommt es, daß du hieran dann Personen geschlossen hast? Ist das absichtlich geschehen? Wolltest du etwa hiermit aus dem Gebiet ‚des Geistes‘ hinüber nach dem Reich ‚der Geister‘ deuten? Hast du an das für uns unsichtbare Land gedacht, an dessen Pforte die sterbende Unwissenheit ihre letzten Worte ‚Von hier gibt es keine Wiederkehr‘ ruft? Stand dir jenes Reich vor Augen, welches der Aberglaube mit Gespenstern bevölkert, obgleich er, er, er das allereinzigste Gespenst ist, welches existiert?“
    „Ich gab Beispiele“, erwiderte ich. „Eine Unterscheidung lag mir fern.“
    „Wohl! Schauen wir also nicht hinüber, sondern bleiben wir bei den Menschen! Jeder, der in der Sonne steht, kann, wenn er sich von ihr abwendet, seinen Schatten sehen. Das ist physikalisch. Aber es gibt auch noch andere Schatten. Ich will ihre Arten nicht aufzählen. Aber eine von ihnen, welche ich die mythologische nenne, möchte ich dir doch zeigen. Sie wurden im alten Griechenland entdeckt und als Erinnyen oder Furien bezeichnet. Sind dir diese Schemen bekannt, Effendi, die höllischer sind als die Hölle selbst?“
    „Nur aus der Mythologie“, sagte ich.
    „Du irrst dich. Du hast sie auch im wirklichen Leben gesehen. Sie laufen da allüberall herum! Du

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