23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
ungefähr so muß das Gericht dem Menschen in die Augen schauen, wenn es einst von ihm sein früheres Leben fordert.
„Sprich deine Frage aus!“ sagte ich.
„Du wirst erschrecken!“ rief er aus.
„Versuche es!“
Wir standen Mann gegen Mann einander gegenüber. Oder war es Seele gegen Seele, Geist gegen Geist?
„Du bist Old Shatterhand?“ fragte er. „Ich habe diesen Namen von meinem Freunde Dschafar gehört.“
„Ich war es“, antwortete ich ruhig aber bestimmt.
Er machte, als er hörte, daß ich sein Präsens in das Imperfektum verwandelte, eine Bewegung der Überraschung. Dann fuhr er fort:
„Du bist Kara Ben Nemsi Effendi?“
„Ich war es“, erwiderte ich abermals.
„Bist es nicht mehr? Beides nicht mehr?“
Bei diesen Worten leuchteten mir seine Augen vor erwartungsvoller Erregung förmlich entgegen.
„Beides nicht mehr!“ nickte ich.
„Seit wann? Sag es mir!“
„Seit diese beiden Namen das geleistet haben, was sie leisten sollten und leisten mußten! In diesen zwei Namen habe ich denen, die es lösen wollen, ein Rätsel aufgegeben, aus dessen Tür das von seinen psychologischen Fesseln befreite Menschheits-Ich wie ein im Freudenglanz strahlender Jüngling hervorzutreten hat. Dieses so viel verachtete und so grimmig angefeindete ‚Ich‘ in meinen Büchern hat allen denen, welche Ohren haben, von einer neuen, ungeahnten Welt zu erzählen, in welcher Leib, Geist und Seele nicht ineinander gekästelt und ineinander geschachtelt sind, sondern Hand in Hand nebeneinander stehen und miteinander wirken. Dieses so oft verspottete und so leidenschaftlich verhöhnte ‚Ich‘ in meinen Werken war nicht die ruhmeslüsterne Erfindung eines wahnwitzigen Ego-Erzählers, welcher ‚unglaubliche Indianer- und Beduinengeschichten‘ schrieb, um sich von den Unmündigen und Unverständigen beweihräuchern zu lassen, sondern unglaublich, über alle Maßen unglaublich ist nur die Blindheit derer gewesen, die einen solchen Wahnsinn für möglich hielten, weil sie sich in den ihnen sehr erwünschten Irrtum hineinlogen, daß diese meine Bücher nur zur vagen Unterhaltung der unerwachsenen Jugend, nicht aber ganz im Gegenteil für die geistigen Augen klar und ruhig denkender Leser geschrieben seien. Diesem so kraftvollen und selbstbewußten ‚Ich‘ ist es nicht eingefallen, in den Gassen des geistigen Unvermögens bettelnd an die Türen zu klopfen, denn von dieser geistigen Armut leben ja grad diejenigen ‚Ichs‘, welche die Lösung meines Rätsels zu fürchten haben. Dieses mein ‚Ich‘ vermied ganz im Gegenteil alle Straßen und Häuserreihen menschenwimmelnder Städte und ging hinaus in alle Welt – – –“
Da unterbrach mich der Ustad, indem er meinen Arm ergriff und im Ton größter Überraschung ausrief:
„Hinaus in alle Welt, um aller Welt zu sagen, daß alle Welt ihr ‚Ich‘ verloren habe? Effendi, Effendi, was höre ich aus diesem deinem Mund! Wer hätte das gedacht! Auch ich war ein ‚Ich‘-Erzähler. Auch ich sandte meine Gedanken hinaus in alle Welt, um – doch nein; davon später! Ich kannte dich nicht. Ich ahnte nur von dir. Es war, als ob ich einem innern Befehl folgen müsse. Und nun sind wir einander gleich, so gleich, so außerordentlich gleich! Wirklich? Wenn in allem, so doch in einem nicht! Ich bin ja noch nicht fertig dich zu fragen! Mache dich bereit, jetzt die Hauptfrage zu hören! Sie ist fast unglaublich! Soll ich sprechen?“
„Ja!“
„Hier hängt das Eigentum von Kara Ben Nemsi. Willst du mir das alles schenken? So schenken, daß ich es behalten kann? Es ist dann nicht mehr dein. Du bekommst es nie im Leben wieder in die Hände. Es bleibt für alle Zeit in dieser Rumpelkammer, und keinem Menschen wird es je gezeigt!“
Was war das für ein Blick, den er in mein Gesicht förmlich bohrte? Ich mußte an Ahriman Mirza denken, den Teuflischen! Schaute etwa dieser Verführer mich jetzt aus den funkelnden Augen des Ustad an? So höllisch erwartungsvoll! Ja, es war eine große, eine hochbedeutende Frage, welcher ich da gegenüberstand. Ich begriff den Ustad. Die ganze Hölle, gegen welche er einst vergeblich gekämpft hatte, schaute mich jetzt mit diesem seinem Blick an. Aber ich konnte ruhig sein. Mich sollte sie nicht hindern, den Weg zu gehen, den ich mir ja schon längst vorgezeichnet hatte. Es wurde mir nicht schwer, mich zu entscheiden. Ich hielt dem Ustad meine Rechte hin, schaute ihm ruhig lächelnd ins Gesicht und sagte:
„Gib mir deine
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