23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
hast sie nur nicht durchschaut, nicht definiert. Wenn die Sonne genau in deinem Zenit steht, so hast du keinen Schatten. Der, den du gibst, liegt unter deinen Füßen; man sieht ihn nicht. Aber sobald sie den Gipfelpunkt verläßt, kommt der Schatten unter dir hervorgekrochen und wird um so größer, je weiter sie sich von dir entfernt. In dem Augenblick, an welchem dein Tag dahinzusterben und die Sonne für immer von dir zu gehen scheint, ist dieser dein Schatten so weit ‚über alles Menschliche hinausgestiegen‘, daß er die ganze hinter dir liegende Fläche bedeckt und so vollständig verdunkelt, als ob es hier niemals in deinem Leben Licht gegeben habe. Das kannst du bei jedem Sonnenuntergang beobachten. Es gibt aber auch noch andere Sonnenuntergänge. Soll ich dir einen beschreiben? Den meinigen? Und den Riesenschatten, der da hinter mir entstand?“
Er schaute in die kleine, leise hin und her wehende Flamme des brennenden Lichts, dann schloß er die Augen, als ob er selbst den nur matten Schein desselben jetzt nicht ersehen könne, und sprach dann weiter:
„Mein Morgen war vergangen. Ich hatte Mittagszeit. Die Sonne stand grad über mir. Rund um mich her lag Helligkeit. Es wurde mir zu heiß, so schattenlos in solchem Licht zu stehen. Ich sah mich um. Meine ganze Welt schien Glück und Frieden auszustrahlen. Nur Freundesaugen sahen mich an. Nur Freundeshände griffen nach meiner Rechten. Nur Freundesworte drangen an mein Ohr. Aber es war mir unmöglich, dieses so gänzlich ungetrübten Sonnenscheins in meinem Innern froh zu werden. Ich kannte die alte Sage von jenem neidischen ‚Erdengott‘, der es nicht duldet, daß der Sterbliche sich glücklich fühle. Ich schaute besorgt empor zur Spenderin all dieses grellen Lichts. Sie lächelte mir, wie eben noch, in heller Wonne zu. Aber ich sah, daß sie ihre Stellung zu mir aufgegeben hatte. Die Linie von ihr zu mir war schief geworden. Und da begann der ‚Erdengott‘ sich unter mir zu regen. Er hatte sich zu meiner Mittagszeit mit meiner Person so vollständig einverstanden erklärt, daß er seine Dunkelheit gänzlich aufgegeben zu haben schien. Da bemerkte ich, daß die freundlichen Blicke mich verließen und nach unten glitten. Sie schauten hinter mich. Ich blickte an mir herab, bis tief zu meinen Füßen. Was sah ich da?! Einen Kopf, der unter mir hervorgekrochen kam! Er ahmte die Bewegung des meinen nach. Wollte er mich verspotten? Oder haben die Köpfe der Schatten so gar keine Spur von eigenem Gehirn, daß sie, um existieren zu können, auf die Nachäffung lichtdenkender Menschen angewiesen sind? Werden sie, die vollständig gedanken- und urteilslosen, von jenem ‚Erdengott‘ gezwungen, diesen Menschen jede geistige Form und jede intellektuelle Bewegung abzustehlen und sie im Bodenschmutz zu verzerren, um selbst auch einmal für ‚Etwas‘ gehalten zu werden? Der Kopf kam immer weiter und immer deutlicher hinter mir hervor. Er bemühte sich, dem meinen möglichst ähnlich zu werden. Es war sogar das Bestreben zu erkennen, meine Gesichtszüge wiederzugeben. Aber so oft ich ihm das Gesicht auch zukehrte, ich sah doch nur, daß ihm dies nicht gelang. Diese Schemen haben ja ein für allemal darauf verzichtet, ein menschenwürdiges Antlitz zu besitzen! Je mehr die Sonne sich von mir entfernte, um so dreister zeigte sich das Phantom. Die Schultern, der Leib, die Arme kamen zum Vorschein, sogar auch die Beine, aber nicht als wirkliche, greifbare, lebendige Gestalt, sondern als wesenloses Trugbild, welches nur so lange standhielt, als man sich selbst nicht bewegte. Sobald man ihm aber nähertreten oder die Hand ausstrecken wollte, um es zu prüfen, wich es sofort zurück. Dabei war zu bemerken, daß die erst vorhandene Ähnlichkeit der Umrisse sich in ganz genau demselben Verhältnis verringerte, in welchem das Zerrbild sich vergrößerte. Es verschwanden nicht nur sehr bald diejenigen Konturen, welche möglicherweise hätten auf mich schließen lassen können, sondern die Mißgestalt wurde allmählich so unförmlich und ging nach und nach derart in das Ungeheuerliche über, daß es mir fast wie ein Wahnsinn vorkam, die Stelle, an welcher ich stand, als den Entstehungspunkt derselben zu betrachten. Freilich waren ihre Füße grad da zu sehen, wo ich mit den meinen stand; außer diesem allereinzigen Umstand aber gab es keinen zweiten Grund, anzunehmen, daß diese ultramonströse Ausgeburt in irgendeiner Beziehung zu mir stehe. Ich stand auf dieser Stelle
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