23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
älteste.«
»Nein, das stimmt nicht«, sagte der Architekt. »Als Erstes erschuf er die Welt aus dem Chaos. Genau das tun auch wir Architekten – wir bringen Ordnung ins Chaos. Wir sind die älteste Berufsgruppe.«
Der Politiker, der die ganze Zeit geduldig zugehört hatte, grinste und sagte: »Und wer hat dieses Chaos erschaffen?«
Ob der Beruf des Mediziners nun der älteste der Welt ist oder nicht, so zählt er doch ganz sicher zu den weltweit beliebtesten. In keinem Land ist er jedoch so beliebt wie in meiner Heimat Korea.
Eine Umfrage im Jahr 2003 ergab, dass beinahe vier Fünftel der erfolgreichsten Studienplatzbewerber (definiert als die besten zwei Prozent eines Jahrgangs) einer wissenschaftlichen Leistungsgruppe Medizin studieren wollten. Inoffiziellen Daten zufolge ist es in den letzten paar Jahren schwieriger geworden, einen Platz an der unattraktivsten der insgesamt 27 medizinischen Fakultäten zu ergattern, als an den besten ingenieurwissenschaftlichen Instituten des Landes. Beliebter kann ein Beruf wohl kaum werden.
Das Interessante ist, dass Medizin in Korea zwar schon immer ein beliebtes Fach war, diese Art von Hyperpopularität aber ganz neu ist. Sie ist mehr oder weniger ein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Was hat sich verändert?
Eine naheliegende Erklärung ist, dass, aus welchen Gründen auch immer (etwa eine alternde Bevölkerung), das relative Einkommen der Ärzte gestiegen ist und der Nachwuchs schlicht auf diesen höheren Anreiz reagiert – der Markt verlangt nach mehr fähigen Ärzten, also drängen immer mehr junge Menschen in diese Branche.
Das relative Einkommen von Ärzten ist mit der zunehmenden Anzahl neuer Berufseinsteiger jedoch gesunken. Es sind auch keine neuen staatlichen Regulierungen eingeführt worden, die den Zugang zu den technischen und naturwissenschaftlichen Berufen (als nächstliegender Alternative für Schulabgänger mit dem Berufswunsch Arzt) erschweren. Was also ist der wahre Grund für diese Entwicklung?
Dahinter steckt in erster Linie, dass die Arbeitsplatzsicherheit in Korea während der letzten zehn Jahre dramatisch gesunken ist. Nach der Finanzkrise 1997, die den »Wirtschaftswunderjahren« des Landes ein Ende setzte, gab Korea sein interventionistisches, paternalistisches Wirtschaftssystem auf und wandte sich einem Marktliberalismus zu, der auf maximalen Wettbewerb setzte. Im Namen größerer Arbeitsmarktflexibilität ist die Arbeitsplatzsicherheit daher drastisch reduziert worden. Millionen Beschäftigter sind in Zeitarbeitsverhältnisse gezwungen worden. Die Ironie an der Sache ist, dass Korea schon vor der Krise einen der flexibelsten Arbeitsmärkte der reichen Welt besaß. Der Anteil an Beschäftigten ohne dauerhaftes Arbeitsverhältnis zählte mit rund fünfzig Prozent ebenfalls zu den höchsten. Die jüngste Liberalisierung hat diesen Anteil noch weiter in die Höhe getrieben – auf etwa sechzig Prozent. Zudem leiden selbst diejenigen mit einem unbefristeten Arbeitsverhältnis unter einer erhöhten Arbeitsplatzunsicherheit. Vor der Krise des Jahres 1997 konnten die meisten unbefristet Beschäftigten de facto – wenn auch nicht de jure - von einem lebenslangen Arbeitsverhältnis ausgehen (wie es in Japan vielerorts immer noch der Fall ist). Heute nicht mehr. Heute legt man älteren Beschäftigten über vierzig oder fünfzig nahe, so bald wie möglich der jüngeren Generation Platz zu machen, selbst wenn ihr Arbeitsverhältnis unbefristet ist. Die Unternehmen können sie zwar nicht nach Belieben feuern, doch gibt es natürlich allerlei Mittel und Wege, jemanden wissen zu lassen, dass er unerwünscht ist und deshalb besser »freiwillig« geht.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die jungen Koreaner auf Nummer sicher gehen wollen. Wenn sie Wissenschaftler oder Ingenieure werden, so rechnen sie sich aus, ist die Gefahr groß, dass sie in ihren Vierzigern oder Fünfzigern ihren Job verlieren. Angesichts des schwachen koreanischen Sozialsystems ist dies eine erschreckende Aussicht: Gemessen am Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt liegt Korea laut OECD weltweit an letzter Stelle. 1 Früher war ein schwacher Wohlfahrtsstaat kein besonders großes Problem, weil viele Menschen eine lebenslange Anstellung hatten. Nun, da es keine derart sicheren Beschäftigungsverhältnisse mehr gibt, wird der schwache Sozialstaat zur Bedrohung. Wenn man seinen Job verliert, sinkt der Lebensstandard drastisch. Zudem hat man in der Regel keine
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