23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
solcher Fehlschlag waren? Wenn man die Reichen überproportional besteuert und die Einnahmen zur Finanzierung des Wohlfahrtsstaats verwendet, verlieren die Reichen dann nicht die Motivation, Wohlstand zu schaffen, und die Armen jeglichen Arbeitsanreiz, weil ihnen unabhängig von ihrer Arbeitsleistung ein minimaler Lebensstandard garantiert wird – auch dann, wenn sie überhaupt nicht arbeiten (siehe Nr. 21)? Nach Meinung der Marktliberalen schadet der Versuch, eine Ergebnisgleichheit herzustellen, daher der gesamten Gemeinschaft (siehe Nr. 13).
Es ist absolut richtig, dass das exzessive Bemühen um eine Ergebnisgleichheit – etwa in der maoistischen Kommune, wo es praktisch keine Verbindung zwischen der individuellen Arbeitsleistung und der Entlohnung gab – negative Auswirkungen auf die Arbeitsmotivation der Menschen hat. Eine reine Ergebnisgleichheit ist obendrein ungerecht. Trotzdem glaube ich, dass eine Ergebnisgleichheit bis zu einem gewissen Grad notwendig ist, wenn wir eine wirklich gerechte Gesellschaft aufbauen wollen.
Der Punkt ist folgender: Wenn die Menschen von der Chancengleichheit profitieren sollen, müssen sie die Fähigkeit mitbringen, diese auch zu nutzen. Es bringt nichts, dass schwarze Südafrikaner die gleiche Zugangsmöglichkeit zu gut bezahlten Jobs haben wie die Weißen, wenn sie nicht über die Bildung verfügen, die sie für diese Jobs qualifiziert. Es hat wenig Sinn, dass die Schwarzen sich nun an besseren (ehemals rein weißen) Universitäten einschreiben dürfen, wenn sie immer noch unterfinanzierte Schulen mit unterqualifizierten Lehrern besuchen müssen, von denen einige selbst kaum lesen und schreiben können.
Die neue Chancengleichheit, sich nun ebenfalls an guten Universitäten einschreiben zu können, bedeutet für die meisten Jugendlichen in Südafrika nicht, dass sie solche Universitäten auch besuchen können. Ihre Schulen sind immer noch arm und schlecht organisiert. Ihre unterqualifizierten Lehrer sind mit dem Ende der Apartheid nicht plötzlich schlauer geworden. Ihre Eltern sind immer noch arbeitslos (selbst die offizielle Arbeitslosenquote, die in Entwicklungsländern regelmäßig weit unter den tatsächlichen Zahlen liegt, ist mit 26 bis 28 Prozent eine der höchsten der Welt). Für sie ist das Recht, sich an besseren Universitäten einschreiben zu dürfen, nichts weiter als ein leeres Versprechen. Aus diesem Grund hat sich Südafrika seit dem Ende der Apartheid in etwas verwandelt, das manche Südafrikaner als »Cappuccino-Gesellschaft« bezeichnen: Ein große braune Masse ganz unten, darüber eine dünne Schicht weißen Schaums und ganz oben ein Hauch von Kakao.
Die Marktliberalen wollen einem nun weismachen, dass diejenigen, die nicht über die Bildung, die Entschlossenheit und die unternehmerische Energie verfügen, um die Möglichkeiten des Marktes zu nutzen, selbst schuld seien. Warum sollten Menschen, die hart an sich gearbeitet und mit viel Mühe einen Universitätsabschluss erworben haben, genauso belohnt werden wie jemand, der den gleichen armen Verhältnissen entstammt und seinen Lebensunterhalt als Kleinkrimineller bestreitet?
Dieses Argument ist korrekt. Wir können und sollten das Verhalten eines Einzelnen nicht ausschließlich danach beurteilen, welchen Verhältnissen er entstammt. Jeder ist selbst dafür verantwortlich, was er aus seinem Leben macht.
Trotzdem ist dieses Argument nur eine Seite der Medaille. Der Einzelne wird nicht in ein Vakuum hineingeboren. Das sozioökonomische Umfeld, in dem er sich bewegt, setzt seinem Handlungsspielraum und oft sogar den individuellen Zielen und Wünschen enge Grenzen. Das eigene Umfeld kann bewirken, dass man gewisse Dinge aufgibt, ohne sie überhaupt versucht zu haben. Zum Beispiel versuchen viele akademisch begabte Kinder aus der britischen Arbeiterklasse nicht, eine Universität zu besuchen, weil »Universitäten nichts für sie sind«. Diese Haltung ändert sich langsam, aber ich erinnere mich noch gut an eine BBC-Dokumentation Ende der Achtzigerjahre, in der ein alter Bergarbeiter und seine Frau einen ihrer Söhne als »Klassenverräter« beschimpften, weil er die Universität besucht hatte und Lehrer geworden war.
Es ist zwar dumm, das sozioökonomische Umfeld für alles verantwortlich zu machen, doch kann man ebenso wenig davon ausgehen, dass die Menschen alles erreichen können, wenn sie nur »an sich selbst glauben« und sich genügend anstrengen, wie es in Hollywoodfilmen gern dargestellt wird.
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