23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
zweite Chance mehr. Junge Koreaner, beraten von ihren besorgten Eltern, malen sich daher aus, dass sie mit einer Arztzulassung so lange arbeiten können, bis sie sich selbst dazu entschließen, in den Ruhestand zu treten. Kein Wunder, dass jeder halbwegs begabte koreanische Jugendliche Medizin studieren will (oder Jura, eine andere Profession mit einer Lizenz).
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich schätze die Ärzteschaft sehr. Ich verdanke ihr mein Leben – ich habe einige lebensrettende Operationen hinter mir und wurde von zahllosen Infektionen nur dank der Antibiotika geheilt, die man mir verschrieb. Doch selbst ich halte es für unmöglich, dass achtzig Prozent der begabtesten koreanischen Jugendlichen im wissenschaftlichen Bereich später alle einmal den Arztberuf ausüben können.
Somit gelingt es also einem der freiesten Arbeitsmärkte der Welt – nämlich dem koreanischen – zunehmend nicht mehr, vorhandenes Talent auf möglichst effiziente Art und Weise zu verteilen. Der Grund? Erhöhte Arbeitsplatzunsicherheit.
Der Wohlfahrtsstaat ist das Insolvenzrecht für Arbeitnehmer
Arbeitsplatzsicherheit ist ein heißes Eisen. Die Verfechter eines freien Marktes sind der Meinung, dass jede Arbeitsmarktregulierung, die Entlassungen erschwert, der Volkswirtschaft Effizienz und Dynamik raubt. Erstens, so die Marktliberalen, schwäche sie den Anreiz für harte Arbeit. Des Weiteren bremse sie die Schaffung von Wohlstand, weil die Arbeitgeber nur noch zögerlich neue Leute einstellten (aus Angst, die Beschäftigten könnten bei Bedarf nicht so leicht wieder entlassen werden).
Arbeitsmarktregulierungen seien schon schlimm genug, heißt es, aber der Wohlfahrtsstaat habe alles nur noch schlimmer gemacht. Durch Arbeitslosengeld, Krankenversicherung, freie Schulbildung oder Zuschüsse zum Existenzminimum habe man den Arbeitnehmern praktisch die Garantie gegeben, notfalls zu einem Mindestentgelt von der Regierung beschäftigt zu werden – als »arbeitsloser Arbeitnehmer«, wenn man so wolle. Daher sei der Arbeitsanreiz für die Beschäftigten nicht besonders groß. Weitaus schlimmer noch sei es aber, dass diese Sozialausgaben durch eine Besteuerung der Reichen finanziert würden, was diesen wiederum den Anreiz für harte Arbeit und damit zur Schaffung von Arbeitsplätzen und nationalem Wohlstand raube.
Angesichts dessen, so heißt es weiter, sei ein Land mit einem starken Sozialstaat automatisch weniger dynamisch – die Arbeitnehmer sähen sich nicht unbedingt zur Arbeit gezwungen, während die Unternehmer weniger motiviert seien, Wohlstand zu schaffen.
Diese Argumentation ist in der Vergangenheit häufig vorgetragen worden und hat großen Einfluss auf die Politik ausgeübt. In den Siebzigerjahren wurde die Lage der kränkelnden britischen Wirtschaft damit erklärt, dass der Wohlfahrtsstaat aufgebläht und die Gewerkschaften übermächtig seien (was ebenfalls dem Wohlfahrtsstaat angelastet wurde, da dieser die Schrecken eines drohenden Arbeitsplatzverlustes verringerte). Nach dieser Interpretation der britischen Geschichte rettete Margaret Thatcher das Land, indem sie die Gewerkschaften auf ihre Plätze verwies und die Sozialausgaben kürzte, wenngleich die Realität noch etwas komplexer war. Seit den Neunzigerjahren dient diese Ansicht häufig auch zur Begründung des (angeblich) überragenden Wirtschaftswachstums der Vereinigten Staaten im Vergleich zu anderen reichen Ländern mit einem stärkeren Wohlfahrtssystem. 2 Wenn Regierungen anderer Länder versuchen, ihre Sozialausgaben zu kürzen, verweisen sie dabei regelmäßig darauf, wie Margaret Thatcher die sogenannte »britische Krankheit« heilte, oder auf die überragende Dynamik der US-amerikanischen Volkswirtschaft.
Stimmt es aber, dass größere Arbeitsplatzsicherheit und ein stärkerer Wohlfahrtsstaat eine Volkswirtschaft weniger produktiv und dynamisch machen?
Wie am Beispiel Koreas zu sehen war, kann ein Mangel an Arbeitsplatzsicherheit Jugendliche dazu bringen, konser vative Entscheidungen hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft zu treffen und Berufe in der Medizin oder den Rechtswissenschaften zu wählen. Dies mögen individuell richtige Entscheidungen sein, doch führen sie zu einer Falschverteilung beruflicher Fähigkeiten und reduzieren dadurch die volkswirtschaftliche Effizienz und Dynamik.
Im Vergleich zu Europa herrscht in den USA ein wesentlich stärkerer Handelsprotektionismus, obwohl staatliche Regulierungen in der Alten Welt höhere
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