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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
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wurde.
    Insoweit, als der Wohlfahrtsstaat den Arbeitnehmern eine zweite Chance einräumt, kann man also durchaus sagen, dass er wie ein Insolvenzrecht für sie wirkt. In der gleichen Weise, wie das Insolvenzrecht auf Unternehmerseite die Risikofreude steigert, fördert der Wohlfahrtsstaat die Bereitschaft der Arbeitnehmer, sich für Veränderungen (und die damit verbundenen Risiken) zu öffnen. Weil die Menschen wissen, dass sie eine zweite Chance bekommen werden, können sie kühnere Entscheidungen hinsichtlich ihrer Berufswahl treffen und sind später eher bereit, ihren Job zu wechseln.

Länder mit stärkeren Regierungen können schneller wachsen

    Wie steht’s mit Beweisen? Wie sehen die Wirtschaftsdaten von Ländern aus, die sich hinsichtlich des Umfangs ihrer Wohlfahrt unterscheiden? Wie bereits erwähnt, wird allgemein angenommen, dass Länder mit schwächerer Wohlfahrt dynamischer sind. Die Realität kann diese Annahme jedoch nicht stützen.
    Bis in die Achtzigerjahre war das Wachstum in den USA geringer als in Europa, obwohl sie einen wesentlich schwächeren Wohlfahrtsstaat hatten. Im Jahr 1980 beispielsweise betrugen die Sozialausgaben in den USA nur 13,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, im Gegensatz zu 19,9 Prozent in den 15 EU-Staaten. In Schweden beliefen sie sich sogar auf 28,6 Prozent, in den Niederlanden auf 24,1 Prozent und in der BRD auf 23 Prozent. Trotzdem wuchsen die USA zwischen 1950 und 1987 langsamer als alle europäischen Länder. Das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland stieg während dieser Zeit um 3,8 Prozent, in Schweden um 2,7 Prozent, in den Niederlanden um 2,5 Prozent, in den USA jedoch nur um 1,9 Prozent. Offensichtlich ist die Größe des Wohlfahrtsstaats nur ein Faktor für die wirtschaftliche Leistungskraft eines Landes. Allerdings zeigt dies auch, dass ein starker Wohlfahrtsstaat nicht unvereinbar mit hohen Wachstumsraten ist.
    Seit 1990 hat sich das Wirtschaftswachstum in den USA zwar beschleunigt, trotzdem sind einige Länder mit stärkerer Wohlfahrt nach wie vor schneller gewachsen. Zwischen 1990 und 2008 stieg das Pro-Kopf-Einkommen in den USA um 1,8 Prozent, also etwa so stark wie im Jahrzehnt zuvor. Wenn man jedoch den volkswirtschaftlichen Rückgang in Europa einberechnet, macht dies die USA zu einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften in der sogenannten »Kerngruppe« der OECD-Staaten (welcher die noch nicht ganz so reichen Länder wie Korea und die Türkei nicht angehören).
    Das Interessante ist jedoch, dass die beiden am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der OECD-Kerngruppe in der Zeit nach 1990 Finnland (mit 2,6 Prozent) und Norwegen (2,5 Prozent) sind. Beide leisten sich ein starkes Wohlfahrtssystem. Im Jahr 2003 betrug der Anteil öffentlicher Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt 22,5 Prozent in Finnland und 25,1 Prozent in Norwegen. Der OECD-Durchschnitt belief sich auf 20,7 Prozent, in den USA waren es lediglich 16,2 Prozent. Schweden, das buchstäblich das größte Wohlfahrtssysten der Welt hat (31,3 Prozent, also rund die doppelten Sozialausgaben der USA), verzeichnete mit 1,8 Prozent eine Wachstumsrate, die nur knapp unterhalb der US-Marke lag. Wenn man nur die Jahre nach 2000 betrachtet (2000 bis 2008), überragten die Wachstumsraten Schwedens (2,4 Prozent) und Finnlands (2,8 Prozent) die der USA (1,8 Prozent) bei Weitem. Hätten die Marktliberalen recht damit, dass sich der Wohlfahrtsstaat lähmend auf Arbeitsmoral und unternehmerische Initiative auswirkte, so dürfte es so etwas gar nicht geben.
    Mit alledem will ich freilich nicht unterstellen, dass der Wohlfahrtsstaat in jeder Hinsicht eine gute Sache ist. Wie alle Institutionen hat er seine Stärken und Schwächen. Insbesondere wenn er auf gezielte Hilfen aufbaut anstatt auf allgemeinere Programme (wie in den USA), kann er die Wohlfahrtsempfänger leicht stigmatisieren. Der Wohlfahrtsstaat erhöht die »Anspruchslöhne« der Menschen und hält sie davon ab, schlecht bezahlte Jobs mit schlechten Arbeitsbedingungen anzunehmen, wenngleich man sich darum streiten kann, ob das nun gut oder schlecht ist (ich persönlich halte die große Zahl »arbeitender Armer« in den USA für ein ebenso großes Problem wie die hohen Arbeitslosenzahlen in Europa). Wenn der Wohlfahrtsstaat aber wie in den skandinavischen Ländern gut strukturiert und darauf ausgerichtet ist, den Arbeitnehmern eine zweite Chance zu bieten, kann er das Wirtschaftswachstum fördern, indem er die Menschen für Veränderungen

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